Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
schwebte. Ich schlief unruhig und träumte, daß Hades mich auslachte.
Während ich schlief, hatten Victor und die Kollegen in der Swindoner LitAg-Außenstelle die Rückkehr der Ich-Erzählerin in den Roman gefeiert. Abgesehen von einer flüchtigen Bemerkung über die Geräusche, die in der Nacht des Zimmerbrandes aus Mrs. Fairfax’
Kammer dringen, war alles mehr oder weniger genauso wie zuvor. Ein Mitglied der Brontë-Gesellschaft überprüfte den Text, während der sich selber schrieb und die letzten zweihundert Seiten füllte, die tagelang leer gewesen waren. Der Brontë-Experte kannte den Roman auswendig, und seine zufriedene Miene gab keinerlei Anlaß zur Besorgnis.
Ich wurde wach, als Pilot an der Tür zu scharren begann, weil er hinausgelassen werden wollte. Lautlos schob ich den Riegel zurück und öffnete. Als ich Jane über den Flur huschen sah, machte ich die Tür gleich wieder zu und schaute auf die Uhr. Es war noch nicht einmal sechs, und die meisten Dienstboten schliefen noch. Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, ließ ich Pilot hinaus und folgte zögernd, immer auf der Hut, falls mir Jane über den Weg lief. Da die meisten Hausbewohner den Vormittag damit zubringen würden, Mr. Rochesters Kammer wiederherzurichten, wollte ich nach dem Frühstück einen Spaziergang unternehmen, doch die Haushälterin hielt mich zurück.
»Miss Next«, verkündete sie, »Mr. Rochester hat mich über die Ereignisse der vergangenen Woche aufgeklärt, und ich möchte Ihnen ebenfalls herzlich danken.« Obwohl ihre Stimme keinerlei Gefühlsregung erkennen ließ, zweifelte ich nicht an ihrer Aufrichtigkeit. Sie setzte hinzu: »Er hat mich beauftragt, das Haus gegen Agenten zu sichern, die Miss Eyre etwas antun könnten.«
Ich sah aus dem Fenster; draußen stand ein Feldarbeiter mit einer großen Spitzhacke Wache. Plötzlich warf er einen Blick ins Haus und lief eilig davon. Gleich darauf trat Jane aus der Tür, nahm einen tiefen Zug der frischen Morgenluft und ging wieder hinein. Sofort bezog der Feldarbeiter von neuem seinen Posten.
»Miss Eyre darf unter keinen Umständen erfahren, daß wir sie bewachen und beobachten«, mahnte Mrs. Fairfax.
»Verstehe.«
Mrs. Fairfax nickte und musterte mich prüfend. »Gehen Frauen dort, wo Sie herkommen, ohne Kopfbedeckung aus dem Haus?«
»Sehr häufig sogar.«
»Bei
uns
ist das nicht üblich«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.
»Kommen Sie, ich gebe Ihnen ein paar anständige Kleider.«
Mrs. Fairfax nahm mich mit in ihr Zimmer und reichte mir eine Haube sowie eine dicke schwarze, knöchellange Pelerine. Ich dankte ihr, und Mrs. Fairfax knickste höflich.
»Ist Mr. Rochester heute im Haus?« fragte ich.
»Er hat anderweitige Verpflichtungen. Soviel ich weiß, weilt er bei Mr. Eshton. Colonel Dent und Lord Ingram werden auch dort sein. Ich erwarte ihn frühestens in einer Woche zurück.«
»Halten Sie das für ratsam, nach allem, was passiert ist?«
Mrs. Fairfax sah mich an, als sei ich ein kleines Kind.
»Sie haben es offenbar noch immer nicht begriffen, wie? Nach dem Brand verreist Mr. Rochester für eine Woche. So ist das nun einmal.«
Ich wollte weiter in sie dringen, doch die Haushälterin entschuldigte sich und ließ mich allein. Ich sammelte meine Gedanken, strich die Pelerine glatt und machte einen Gang ums Haus, um nachzusehen, ob alles fest verriegelt war. Die bewaffneten Feldarbeiter nickten mir im Vorbeigehen ehrfürchtig zu. In der Hoffnung, daß sie Hades nie begegnen würden, ging ich über die Wiese in dieselbe Richtung, in die er am Vorabend verschwunden war. Kaum hatte ich die hohen Birken am Grenzzaun hinter mir gelassen, hörte ich eine vertraute Stimme.
Ich fuhr herum.
»Haben wir überhaupt eine Chance gegen ihn?«
Es war Rochester. Er stand hinter einem der mächtigen Baumstämme und blickte mich mit tiefbesorgter Miene an.
»Auf jeden Fall, Sir«, antwortete ich. »Ohne mich ist er hier gefangen; wenn er zurückwill,
muß
er mit uns verhandeln.«
»Und wo ist er?«
»Ich wollte mal in der Stadt nachsehen. Ich dachte, Sie seien bei Mr. Eshton?«
»Ich mußte vor meiner Abreise unbedingt noch einmal mit Ihnen sprechen. Sie werden Ihr möglichstes tun, nicht wahr?«
Ich versprach ihm, nichts unversucht zu lassen, und machte mich auf den Weg in die Stadt.
Millcote war ein malerisches Städtchen. Im Zentrum gab es eine Kirche, eine Poststation, drei Wirtshäuser, eine Bank, zwei Tuchgeschäfte, einen Getreidehändler sowie
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