Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
Rochester nach dem Arzt schickte. Als der Arzt kam, hielt ich draußen in der Laube Wache, weil ich wußte, daß sich Jane und Rochester dort treffen würden. Und so ging es ohne Unterlaß, bis Jane zu ihrer todkranken Tante in Gateshead fuhr.
Inzwischen hatte Rochester beschlossen, Blanche Ingram zu heiraten, und das Verhältnis zwischen ihm und Jane war merklich abgekühlt. Als sie abreiste, war ich erleichtert; endlich konnte ich mich ein wenig entspannen und mich in Ruhe mit Rochester unterhalten, ohne Janes Verdacht zu erregen.
»Sie bekommen zuwenig Schlaf«, bemerkte Rochester bei einem gemeinsamen Spaziergang über die Wiese. »Sie wirken müde und haben dunkle Ringe unter den Augen.«
»Ich schlafe nicht sehr gut, jedenfalls nicht, solange Hades kaum fünf Meilen entfernt ist.«
»Aber Ihre Späher würden Ihnen doch gewiß mitteilen, wenn er etwas unternähme?«
Er hatte recht; das Spionagenetz funktionierte tadellos, wenn auch nur dank Rochesters beträchtlicher finanzieller Unterstützung. Wenn Hades den Fuß vor die Tür setzte, erfuhr ich es binnen zwei Minuten, von einem Reiter, der sich für ebendiesen Fall bereithielt. So wußte ich jederzeit, wo ich ihn finden konnte, einerlei ob er einen Spaziergang machte, las oder die Bauern mit seinem Stock verprügelte. Er hatte sich nie näher als eine Meile an das Haus herangewagt, und so sollte es auch bleiben.
»Meine Späher haben mir bislang nichts Beunruhigendes berichtet, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß jemand wie Hades tatsächlich so untätig ist. Ich finde das geradezu beängstigend.«
So gingen wir eine Weile vor uns hin. Rochester zeigte mir allerhand Interessantes, doch ich war nicht recht bei der Sache.
»Wie sind Sie eigentlich zu mir gekommen in jener Nacht, als ich angeschossen vor dem Lagerhaus lag?« fragte ich schließlich.
Rochester blieb stehen und sah mich an.
»Es ist einfach
geschehen
, Miss Next. Ich kann es Ihnen nicht erklären, ebensowenig wie Sie mir erklären können, wie Sie als kleines Mädchen hierhergelangt sind. Außer Mrs. Nakijima und einem Reisenden namens Foyle ist mir auch niemand sonst bekannt, dem das je gelungen wäre.«
Ich war erstaunt. »Sie kennen Mrs. Nakijima?«
»Selbstverständlich. Gewöhnlich zeige ich ihren Gästen Thornfield, solange Jane in Gateshead weilt. Das ist völlig ungefährlich und – nebenbei gesagt – auch sehr lukrativ. Ein Landhaus zu unterhalten ist auch in diesem Jahrhundert nicht gerade billig, Miss Next.«
Ich gönnte mir ein Lächeln. Mrs. Nakijima sahnte dabei vermutlich ordentlich ab; schließlich war eine Reise wie diese der Wunschtraum jedes Brontë-Fans, und davon gab es in Japan jede Menge.
»Was haben Sie vor, wenn Ihre Arbeit hier beendet ist?« fragte Rochester und zeigte Pilot ein Kaninchen; der rannte bellend davon.
»Zurück zu SpecOps«, antwortete ich. »Und Sie?«
Rochester sah mich nachdenklich an; er runzelte die Stirn, und ein zorniger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Wenn Jane mit diesem schleimigen St. John Rivers fortgeht, ist es mit mir aus und vorbei.«
»Und was wollen Sie dann tun?«
»Tun? Nichts. Das bedeutet mein Ende.«
»Den Tod?«
»Nicht direkt«, entgegnete Rochester und wählte seine Worte mit Bedacht. »Wo Sie herkommen, wird man geboren, lebt und stirbt. Habe ich recht?«
»Mehr oder weniger.«
»Was für ein jämmerliches Dasein muß das sein!« rief Rochester lachend. »Und wenn Sie niedergeschlagen sind, suchen Sie vermutlich Trost bei jenem inneren Auge, das wir Gedächtnis nennen, nicht?«
»Meistens«, antwortete ich, »obwohl das Gedächtnis hundertmal schwächer ist als unsere tatsächlich erlebten Gefühle.«
»Ganz Ihrer Meinung. Hier werde ich weder geboren, noch sterbe ich. Ich erblicke mit achtunddreißig Jahren das Licht der Welt und verlasse sie bald darauf schon wieder, nachdem ich mich zum ersten Mal verliebt und dann das Objekt meiner Verehrung sogleich wieder eingebüßt habe!«
Er blieb stehen und hob den Stock auf, den Pilot ihm statt des entwischten Kaninchens gebracht hatte.
»Sie müssen wissen, daß ich mich in Sekundenschnelle an jede gewünschte Stelle des Romans und wieder zurück expedieren kann; ein gut Teil meines Lebens liegt zwischen dem Augenblick, da ich jenem zarten, spitzbübischen Wesen meine aufrichtige Liebe gestehe, und dem Moment, wo der törichte Mason und sein Anwalt mir die Hochzeit verderben. In diese Wochen kehre ich am häufigsten zurück,
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