Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
aber ich besuche auch die schlechten Zeiten – denn ohne einen Maßstab ist man geneigt, die Höhepunkte für selbstverständlich zu nehmen. Zuweilen spiele ich mit dem Gedanken, die beiden von John am Kirchtor abpassen und hinhalten zu lassen, bis die Trauung abgeschlossen ist, aber das läßt der Roman leider nicht zu.«
»Das heißt, während Sie hier stehen und mit mir plaudern …«
»… begegne ich Jane gleichzeitig zum ersten Mal, umwerbe und verliere sie für immer. Ich sehe Sie deutlich vor mir, als kleines Kind, mit angsterfüllter Miene angesichts der donnernden Hufe meines Pferdes …«
Er betastete seinen Ellbogen.
»Sogar die Schmerzen spüre ich, die mir der Sturz verursacht. Wie Sie sehen, hat meine Existenz, obgleich befristet, durchaus ihre Vorteile.«
Ich seufzte. Ach, wenn das Leben doch auch in Wirklichkeit so einfach wäre; wenn man sich auf die guten Zeiten beschränken und die schlechten einfach überspringen könnte …
»Gibt es einen Mann, den Sie lieben?« fragte Rochester mit einem Mal.
»Ja; aber unser Verhältnis ist gespannt. Er hat meinen Bruder eines tödlichen Irrtums bezichtigt, und ich fand es ungerecht, den Fehler einem Toten anzulasten, der sich nicht mehr verteidigen kann. Und jetzt fällt es mir schwer, ihm zu vergeben.«
»Was gibt es denn da zu vergeben?« fragte Rochester. »Setzen Sie einen Strich darunter, und konzentrieren Sie sich darauf zu
leben
. Ihr Leben ist kurz; viel zu kurz, um die Zeit mit Bösesein zu vertrödeln und auf das Glück zu verzichten, das ohnehin nur von begrenzter Dauer ist.«
»Ach!« entgegnete ich. »Er ist verlobt!«
»Na und?« spottete Rochester. »Vermutlich mit jemandem, der ebensowenig zu ihm paßt wie Blanche Ingram zu mir!«
Ich dachte an Daisy Mutlar, und es schien da in der Tat einige Parallelen zu geben.
Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bis Rochester eine Uhr aus seiner Westentasche zog. »Meine Jane kehrt soeben aus Gateshead zurück. Wo sind mein Stift und mein Notizbuch?«
Er kramte in seinen Taschen und förderte einen Bleistift und ein gebundenes Zeichenbuch zutage. »Ich soll ihr wie zufällig begegnen; sie wird in Kürze hier übers Feld kommen. Wie sehe ich aus?«
Ich strich seine Krawatte glatt und nickte zufrieden.
»Finden Sie eigentlich, daß ich gut aussehe, Miss Next?« fragte er gänzlich unerwartet.
»Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß.
»Pah!« stieß Rochester hervor. »Frauenzimmer! Hinfort, mir aus den Augen; wir sprechen uns noch!«
Ich ließ ihn stehen und ging am See entlang zum Haus zurück, in tiefes Nachdenken versunken.
Und so verstrich Woche um Woche, es wurde langsam wärmer, und die Bäume schlugen aus. Ich bekam Rochester und Jane kaum zu Gesicht; die beiden hatten nur noch Augen füreinander. Mrs. Fairfax gefiel die Liaison gar nicht, und ich mußte sie mehrfach ermahnen.
Darüber plusterte sie sich auf wie eine alte Henne und gab sich fortan verschnupft. Monatelang ging in Thornfield alles seinen gewohnten Gang; aus dem Frühling wurde Sommer, und auch am Tag der Hochzeit war ich da, auf Rochesters ausdrückliche Bitte in der Sakristei versteckt. Ich sah, wie der Pfarrer, ein wohlbeleibter Mann namens Wood, die Frage stellte, ob einem der Anwesenden ein Hindernis bekannt sei, welches die Eheschließung vor dem Gesetz oder vor Gott verbiete. Ich hörte, wie der Anwalt sein schreckliches Geheimnis preisgab. Rochester geriet völlig außer sich vor Zorn, als Briggs die eidesstattliche Erklärung verlas und erklärte, die wahnsinnige Bertha Mason sei Rochesters rechtmäßige Ehefrau.
Während sie noch herumstritten, hielt ich mich verborgen und kam erst aus meinem Versteck, als Rochester die Anwesenden zu seinem Haus führte, um ihnen die Verrückte zu zeigen. Statt ihnen jedoch zu folgen, unternahm ich einen Spaziergang. Ich hatte keine Lust, dabei zu sein, wenn Jane und Rochester sich damit auseinandersetzen müssen, daß sie nicht heiraten können.
Am nächsten Morgen ging Jane fort. Ich folgte ihr in sicherem Abstand auf der Straße nach Whitcross; sie schien mir wie ein kleines, verirrtes Tier, das anderswo nach einem besseren Leben sucht. Ich blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, und ging dann auf einen Imbiß nach Millcote. Nachdem ich im George zu Mittag gegessen hatte, maß ich mich mit drei fahrenden Kartenspielern; bis zum Abend hatte ich ihnen sechs Guineas abgeknöpft. Während wir noch spielten, trat ein Knabe an unseren Tisch. »Hallo, William!« sagte
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