Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
Langeweile überkommt, werfen Sie mal da einen Blick rein.«
Ich betrachtete das Buch, das er mir in die Hand gedrückt hatte. Es war eine in rotes Leder gebundene Ausgabe von Charlotte Brontës
Jane Eyre
.
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte ich spitz.
»Wer hat mir was gesagt?« fragte Tamworth sichtlich erstaunt zurück.
»Na ja, ich dachte … ich habe dieses Buch oft gelesen. Als junges Mädchen. Ich kenne es in-und auswendig.«
»Hat Ihnen der Schluß gefallen?«
Ich überlegte einen Augenblick. Das unbefriedigende Ende des Romans sorgte in der Brontë-Gemeinde seit jeher für Kopfschütteln und Unverständnis. Man war sich einig, daß das Buch wesentlich besser gewesen wäre, wenn Jane nach Thornfield Hall zurückgefunden und Rochester geheiratet hätte.
»Niemandem gefällt der Schluß, Tamworth. Aber davon abgesehen hat es mehr als genug zu bieten.«
»Dann kann eine neuerliche Lektüre ja nicht schaden, oder?«
Es klopfte an der Tür. Tamworth öffnete, und ein Mann, der keinen Hals, dafür aber um so kräftigere Schultern hatte, kam herein.
»Auf die Minute!« sagte Tamworth mit einem Blick auf seine Uhr.
»Thursday Next, das ist Buckett. Er wird uns vorläufig zur Seite stehen, bis ich einen passenden Ersatz gefunden habe.«
Sprach’s und verschwand.
Buckett und ich gaben uns die Hand. Er lächelte gequält, als ob ihm dieser Einsatz nicht behagte. Er sagte, er freue sich, mich kennenzulernen, und plauderte dann mit Snood über den Ausgang eines Pferderennens.
Ich trommelte mit den Fingerspitzen auf das Exemplar von
Jane Eyre
, das Tamworth mir gegeben hatte, und verstaute es in meiner Brusttasche. Ich sammelte die leeren Kaffeetassen ein und stellte sie in das angeschlagene Emailbecken in der Küche. Plötzlich stand Buckett in der Tür.
»Tamworth hat gesagt, Sie wär’n eine LitAg.«
»Wenn Tamworth das sagt, muß es wohl stimmen.«
»Ich wollte auch mal zu den LitAgs.«
»Ach ja?« machte ich und sah nach, ob es im Kühlschrank auch etwas gab, das sein Haltbarkeitsdatum noch nicht um mindestens ein Jahr überschritten hatte.
»Ja. Aber es hieß, man müßte das eine oder andere Buch gelesen haben.«
»Das kann nicht schaden.«
Als es an der Tür klopfte, wanderte Bucketts Hand automatisch zu seiner Waffe. Er war nervöser, als ich gedacht hatte.
»Nur keine Panik, Buckett. Ich mach das schon.«
Er ging mit mir zur Tür und entsicherte seine Pistole. Ich sah ihn fragend an, und er nickte.
»Wer ist da?« fragte ich, ohne die Tür zu öffnen.
»Hallo!« ertönte eine Stimme. »Mein Name ist Edmund Capillary.
Haben Sie sich nicht auch schon einmal gefragt, ob Shakespeares wunderbare Stücke auch
tatsächlich
von ihm stammen?«
Buckett und ich atmeten erleichtert auf. Er sicherte seine Automatik wieder und brummte halblaut: »Scheiß Baconier!«
»Ganz ruhig«, erwiderte ich, »das ist schließlich nicht verboten.«
»Leider.«
»Pssst.«
Ich öffnete die Tür so weit, wie es die vorgelegte Kette zuließ und sah mich einem kleinen Mann im ausgebeulten Cordanzug gegenüber.
Er hielt mir einen zerknitterten Ausweis unter die Nase und lüftete nervös lächelnd den Hut. Die Baconier waren zwar reichlich bekloppt, aber im großen und ganzen harmlos. Ihr Lebenszweck bestand darin, den Beweis zu führen, daß nicht Will Shakespeare, sondern Francis Bacon die bedeutendsten Dramen der englischen Sprache verfaßt habe. Und weil sie glaubten, daß man Bacon die gebührende Anerkennung versagte, kämpften sie unermüdlich für die Wiedergutmachung dieses vermeintlichen Unrechts.
»Hallo!« sagte der Baconier freudestrahlend. »Haben Sie vielleicht einen Moment für mich Zeit?«
Ich antwortete langsam: »Wenn Sie allen Ernstes glauben, mir weismachen zu können, daß der
Sommernachtstraum
von einem Juristen verfaßt wurde, muß ich wohl weitaus dümmer aussehen, als ich dachte.«
Doch so leicht ließ der Baconier sich nicht abwimmeln. Es machte ihm offensichtlich Spaß, mein dürftiges Argument zu widerlegen; im richtigen Leben war er vermutlich Anwalt, Spezialgebiet Personenschäden.
»Nicht halb so dumm wie die These, daß ein ungebildeter Schuljunge aus Warwickshire unsterbliche Werke verfaßt haben soll.«
»Woher wollen Sie wissen, daß er ungebildet war?« gab ich zurück; langsam fand ich Gefallen an dem Spielchen. Buckett winkte mir, daß ich den Kerl endlich loswerden sollte, doch ich ignorierte sein Gefuchtel.
»Einverstanden«, fuhr der Baconier fort, »aber es
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