Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
spricht doch einiges dafür, daß es sich bei dem Shakespeare aus Stratford und dem Shakespeare aus London um zwei verschiedene Männer handelt.«
Ein interessanter Ansatz. Ich zögerte einen Moment, und Edmund Capillary nutzte die Gelegenheit, sein Sprüchlein aufzusagen. Wie auf Knopfdruck sprudelte es aus ihm heraus: »Der Shakespeare aus Stratford war ein wohlhabender Getreidehändler und Immobilienmakler, während der Londoner Shakespeare wegen vergleichsweise lächerlicher Summen von Steuereintreibern gejagt wurde. Einmal, im Jahre 1600, verfolgten ihn die Eintreiber sogar bis nach Sussex; warum haben sie ihn sich dann nicht gleich in Stratford geschnappt?«
»Da bin ich überfragt.«
Jetzt kam er richtig in Fahrt.
»In Stratford wußte niemand von seinen literarischen Erfolgen!
Nach heutigem Kenntnisstand hat er nie auch nur ein Buch gekauft oder einen Brief geschrieben, sondern lediglich mit Getreide, Malz und ähnlichem gehandelt.«
Das Männlein sah mich triumphierend an.
»Und was, bitte, hat Bacon mit alldem zu tun?« fragte ich.
»Francis Bacon war ein elisabethanischer Schriftsteller, den seine Familie zu einer Laufbahn als Anwalt und Politiker gezwungen hatte.
Da es seinerzeit als unfein galt, in Theaterkreisen zu verkehren, sah Bacon sich genötigt, einen kaum bekannten Schauspieler namens Shakespeare als Strohmann zu nehmen – die Historie hat fälschlicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Shakespeares hergestellt, um einer ansonsten wenig glaubwürdigen Geschichte größere Plausibilität zu verleihen.«
»Und der Beweis?«
»Hall und Marston – zwei elisabethanische Satiriker – hegten die felsenfeste Überzeugung, daß Bacon der eigentliche Verfasser von
Venus und Adonis
und
Lucretia
sei. Alles weitere steht in dieser Broschüre. Nähere Informationen erhalten Sie bei unseren monatlichen Versammlungen; bis vor kurzem haben wir uns im Rathaus getroffen, aber vorige Woche hat der radikale Flügel der Neuen Marlowianer einen Brandanschlag auf uns verübt. Wo wir das nächste Mal zusammenkommen, steht noch nicht fest. Aber wenn ich Ihren Namen und Ihre Telefonnummer notieren darf, melde ich mich rechtzeitig bei Ihnen.«
Seine Miene war ernst und selbstgefällig; er dachte, ich sei ihm auf den Leim gegangen. Ich beschloß, meinen stärksten Trumpf auszuspielen. »Und was ist mit dem Testament?«
»Dem Testament?« echote er leicht nervös. Er hatte offenbar gehofft, daß ich nichts davon wüßte.
»Ja«, fuhr ich fort. »Wenn es
wirklich
zwei verschiedene Shakespeares gab, warum hat der Shakespeare aus Stratford dann Condell, Henning und Burbage, drei Theaterkollegen des Londoner Shakespeare, in seinem Testament bedacht?«
Dem Baconier klappte die Kinnlade runter. »Diese Frage hab ich befürchtet.« Er seufzte. »Ich verschwende meine Zeit, nicht wahr?«
»Ja. So leid es mir tut.«
Er brummte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und zog von dannen, aber schon als ich den Riegel vorschob, hörte ich, wie er an die Tür der Nachbarwohnung klopfte. Vielleicht hatte er dort mehr Glück.
»Was hat eine LitAg hier überhaupt zu suchen, Next?« fragte Buckett, als wir wieder in der Küche waren.
»Ich bin nur hier«, antwortete ich langsam, »weil ich weiß, wie er aussieht; aber keine Angst: Sobald ich unseren Mann identifiziert habe, schickt Tamworth mich zurück auf meinen alten Posten.« Ich goß klumpige Milch ins Becken und spülte den Karton aus.
»Glück muß der Mensch haben.«
»Ansichtssache. Und Sie? Wie sind Sie an Tamworth geraten?«
»Ich bin eigentlich bei der Terror-Bekämpfung. SO-9. Aber Tamworth brauchte dringend Personal. Der Säbelhieb, dem er seine Narbe zu verdanken hat, galt eigentlich mir. Deshalb war ich ihm was schuldig.«
Er senkte den Blick und nestelte verlegen an seiner Krawatte. Auf der Suche nach einem Geschirrtuch lugte ich vorsichtig in einen Küchenschrank, machte eine unappetitliche Entdeckung und schlug die Tür rasch wieder zu.
Buckett zog seine Brieftasche hervor und zeigte mir ein Foto von einem sabbernden Säugling, der sich in nichts von anderen sabbernden Säuglingen unterschied. »Ich bin verheiratet, und Tamworth weiß, daß solche Einsätze für mich tabu sind; ich trage schließlich Verantwortung, wissen Sie.«
»Hübsches Baby.«
»Danke.« Er steckte das Bild wieder ein. »Sind Sie verheiratet?«
»Es hat nicht sollen sein«, antwortete ich und füllte den Teekessel mit Wasser. Buckett nickte und holte eine Rennzeitung
Weitere Kostenlose Bücher