Thursday Next 03 - Im Brunnen der Manuskripte
Wind ließ schlagartig nach, und auch das Tosen der Wellen war nur noch ein dumpfes Grollen hinter der Mauer. Ich hob das verbeulte Saxophon auf.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Text-See so dramatisch aussieht«, sagte ich atemlos. »Ich dachte, es wäre mehr eine abstrakte Vorstellung.«
»Na ja«, sagte Jack und hob seinen Hut wieder auf. »Sie ist ebenso real wie alles hier unten. Das Litera-Meer ist die Lebensgrundlage für alle Prosa lateinischer Schrift. Irgendwo ist es mit dem Searyllischen Ozean verbunden, aber die Einzelheiten weiß ich leider auch nicht. Sie wissen doch, was dieses Loch in der Landschaft bedeutet?«
»Hat jemand die Szene gestohlen?«
»Sieht eher nach einer Streichung aus«, sagte Jack grimmig. »Rausgeschnitten. Das ganze Ding. Figuren, Schauplatz, Dialog, Handlung und der Trick mit der Schiebung, den der Autor aus
On the Waterfront
geklaut hat.«
»Und wo ist das alles hin?«
»Vielleicht in ein anderes Buch desselben Autors verschoben«, seufzte Jack. »Das wäre das Schlimmste. Das würde bedeuten, dass wir nicht mehr lange hier sein werden. Der nächste Nagel in unserem Sarg.«
»Können wir nicht einfach ins nächste Kapitel springen, wo der erschossene Drogendealer entdeckt wird?«
Jack schüttelte den Kopf. »Das klappt nicht«, sagte er traurig. »Ohne die Szene in der Boxfabrik weiß ich ja nicht, dass Hawkins in Davisons Pläne verstrickt ist. Und wenn Mick Finney nicht mit mir redet, gibt es keinen Grund, ihn zu ermorden. Er hätte den Kampf abbrechen können, ehe Johnson seine dreihunderttausend Pfund setzt, und die herzwärmende Szene mit dem jungen Boxer am Ende des Buches macht auch keinen Sinn, wenn ich ihn hier nicht zuvor kennen lerne. Scheiße! Es gibt keinen Kesselflicker im ganzen Brunnen, der dieses Loch stopfen kann. Wir sind erledigt, Thursday. Sobald die Leute merken, dass die Szene in der Boxfabrik weg ist, löst sich das ganze Buch auf. Wir müssen unsere literarische Zahlungsunfähigkeit erklären. Wenn wir schnell genug Gläubigerschutz beantragen, können wir vielleicht erreichen, dass größere Teile an andere Bücher verkauft werden.«
»Wir müssen doch irgendwas tun können!«
Jack dachte einen Augenblick nach. »Nein, Thursday. Es ist vorbei. Ich muss aufgeben.«
»Warten Sie. Wie wäre es, wenn ich zu spät komme? Wenn ich die Treppe heraufkomme, haben Sie die Unterhaltung mit Mickey schon hinter sich und
erzählen
mir, was er gesagt hat. Von da aus springen wir direkt ins achte Kapitel und ... Was ist? Sie sehen mich so merkwürdig an.«
»Mary -«
»Thursday.«
»Thursday. Dann wäre das siebte Kapitel doch bloß eine Seite lang.«
»Besser als gar nichts.«
»Das funktioniert doch nicht.«
»Vonnegut macht das doch dauernd.«
Er seufzte. »Na schön, Maestro. Fangen Sie an!«
Ich lächelte, und wir sprangen drei Seiten zurück.
Reading, am Dienstagmorgen. Es hatte die ganze Nacht geregnet, und die nassen Straßen spiegelten den bleiernen Himmel. Mary hatte sich verspätet, und als sie an Mickey Finn's Boxfabrik eintraf, kam Jack schon mit großen, hallenden Schritten die eiserne Treppe hinunter, die zur Trainingshalle hinaufführte.
»Tut mir leid«, sagte Mary, »ich hatte eine Reifenpanne. Haben Sie Ihren Kontaktmann getroffen?«
»J-ja«, sagte Jack. »Wenn Sie da oben in der Fabrik gewesen wären, was Sie ja nun leider nicht waren, hätten Sie festgestellt, dass es sich um eine düstere Halle handelt, die nach Schweiß und Tränen riecht. Dort hätten Sie die jungen Talente aus der Unterklasse von Reading beim Sparring gesehen, die hofften sich den Weg zum Erfolg freizuboxen.«
»Mit wem haben Sie denn gesprochen?« fragte Mary, während sie zurück zu ihrem Wagen gingen.
»Mickey Finn. Der war selbst mal ein Boxer, man sieht es an seinen zernarbten Augenbrauen und einem ständigen Zittern im Mundwinkel. Heute führt er die Boxfabrik und dealt nebenher. Er hat mir erzählt, dass Hawkins in Davisons Pläne verstrickt ist. Es heißt, dass am fünften eine große Lieferung eintrifft. Außerdem hat er erwähnt, dass er sich mit Jethro trifft, aber wie wichtig das ist, werd' ich erst später verstehen.«
»War sonst noch was?« fragte Mary nachdenklich.
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Sind Sie sicher, dass Sie sicher sind?«
»Äh ... Halt, warten Sie! Jetzt fällt es mir wieder ein. Da war dieser junge Bursche da oben, der sich auf seinen ersten Kampf vorbereitete. Mickey hat gesagt, er sei der beste
Weitere Kostenlose Bücher