Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
welchen Laden Tor meinte, denn es gab nur einen einzigen, von dem man so lapidar sprach. Es war Jerusha PalaThions Idee gewesen, den Sommerleuten die Errungenschaften einer modernen Technik auf diese Weise näherzubringen. In einem Block ehemaliger Warenhäuser wurden Geräte ausgestellt und vorgeführt, und jeder, der bereit war, etwas Neues auszuprobieren, bekam kostenlose Muster. Am Anfang der Azur-Allee, wo der Laden lag, stiegen sie aus und bahnten sich ihren Weg durch die Schar der neugierigen Gaffer, die die einzelnen Stände umlagerten.
»Tor, gibt es auf der anderen Straßenseite immer noch diesen Fruchtsaftverkäufer?« fragte Fate und hob den Kopf. »Mir scheint, ich kann das Obst riechen.«
»Ja. Soll ich dir etwas bringen?«
»Ich hätte gern einen großen Becher Rosenbeerensaft. Auf einmal habe ich einen schrecklichen Durst.«
»Der Fisch-Eintopf war etwas stark gesalzen«, meinte Tor und führte sie zu einer Säule, wo sie bequem stehen und warten konnte. »Bin gleich wieder da.«
Während Tor die Allee überquerte, bemerkte sie mit Genugtuung, wie viele Sommerleute sich unter die Schaulustigen mischten. Nachdem sie sich an die Vorstellung gewöhnt hatten, daß mit dem Regierungswechsel tatsächlich eine Veränderung einherging, waren die Sommer – besonders die jüngeren – allmählich dazu übergegangen, sich der modernen Zeit anzupassen. Selbst die Unverdrossensten unter ihnen waren nicht mehr erpicht darauf, ihre Seehaarfelder umzuwälzen, indem sie auf Stelzen durch das eiskalte Wasser staksten, wenn ein windgetriebenes, mit Paddeln bestücktes Floß, dieselbe Wirkung erzielte. Die eingesparte Zeit konnten sie dazu nutzen, in ihren Booten aufs Meer hinauszufahren und leichte, extrem starke Netze auszuwerfen, die ihnen die doppelten Fangerträge bescherten.
Sie bezahlte den Saft und ging zu Fate zurück. Dann schlenderten sie weiter, an den Ständen mit Ausstellungsstücken vorbei, die Tor der älteren Frau ausführlich beschrieb. Mitunter führte sie deren Hand auch über Geräte, damit sie sich einen besseren Eindruck verschaffen konnte.
»Na so etwas ... ich wünsche dir einen guten Tag, Fate Ravenglass Winter«, sagte jemand hinter ihnen.
Sie drehten sich um, als sie Capella Goodventures Stimme erkannten, und auch die unüberhörbare Kälte, mit der sie das Wort ›Winter‹, aussprach. Selbst nach so vielen Jahren fiel es der Ältesten des Goodventure-Clans nicht leicht, die Wahrheit über die Sibyllen zu ertragen; für sie verkörperten sie immer noch die Sprachrohre der Sommergöttin.
»Hallo, Capella Goodventure«, erwiderte Fate lahm; auch sie benutzte die offizielle Anrede, ließ den Zusatz ›Sommer‹ jedoch weg.
»Willst du dir ein paar nützliche Geräte für dein Stadthaus aussuchen?« stichelte Tor. Sie war verschnupft, weil Capella sie so vollständig ignorierte.
Nun jedoch zog sie sich nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch den Zorn der Clan-Ältesten zu. »Nein, Winter! Ich bin hier, um zu sehen, welche neuen Perversionen uns hier angeblich im Namen der Herrin und um des Wechsels willen noch aufgedrängt werden.«
Tor furchte die Stirn. »Wenn dir so viel an den Sommertraditionen liegt, warum bleibst du dann nicht auf der Plantage – oder ziehst in die Untere Stadt, wo die übrigen Sommerleute wohnen? Dein Haus gleich neben dem Palast scheint dir ja sehr gut zu gefallen.«
Capella Goodventure erstarrte. »Ich wohne dort, weil es die Tradition erfordert, daß ich mich in der Nähe der Herrin aufhalte für den Fall, daß sie mich braucht. Und sie hat es ja vorgezogen, ihr Domizil im Palast der Schneekönigin aufzuschlagen.« In ihrer Stimme schwang Bitterkeit und vielleicht auch ein Anflug von Bedauern mit.
»Du meinst wohl, daß du dich auf diese Weise besser in ihre Angelegenheiten einmischen kannst«, versetzte Tor mürrisch. »Wann wirst du endlich einsehen, daß sich auch die Sommerleute ihr Leben so bequem wie möglich einrichten wollen? Deshalb sind sie ja hier, um sich zu informieren. Selbst deine heiligen Sibyllen wissen das, sonst würden sie ja nicht für die Königin arbeiten.«
»Tor ...« Beschwichtigend legte Fate ihr die Hand auf den Arm; dabei stieß sie den Becher mit dem Rosenbeerensaft um, den sie auf einem Tisch abgestellt hatte. Tor fluchte, als die rötliche Flüssigkeit auf ihre Hose tropfte.
»Sie arbeiten für die Königin, weil sie dazu auserwählt wurde, die Stimme der Göttin zu sein ... und weil sie selbst eine Sibylle ist«,
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