Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
denn wenn das Geheimnis erst gelüftet würde, drohte Gefahr, und der Computer hätte seine Existenzberechtigung verloren. Den Menschen, zu deren Nutzen er konstruiert worden war, konnte man nicht trauen. Deshalb ließ das Sibyllennetz es nicht zu, daß sie die Lage des Computers verriet, oder den wahren Grund, warum die Mers existierten ... auch wenn das Weiterbestehen des Netzes vom Überleben der Mers abhing.
Das Sibyllennetz hatte sie dazu ausersehen, ein bestimmtes Werk zu vollbringen – doch plötzlich begriff sie, daß es selbst ihr nicht vollständig traute. Sie durfte ihr Geheimnis mit niemandem teilen, auch dann nicht, wenn es darum ging, das Netz selbst und die Mers zu retten. Auf sich allein gestellt mußte
sie
die Aufgabe bewältigen, die man ihr abverlangte, ohne dem Feind das einzige Argument zu verraten, das ihn vielleicht zu einem Kompromiß hätte bewegen können.
Denn niemand außer ihr durfte den wahren Grund für die Verquickung des Sibyllennetzes mit den Mers kennen.
Sie ließ Funke in seiner Verwirrung allein und ging aus dem Zimmer.
TIAMAT
Goodventure Landgut
M it abgestellten Motoren schob sich der kleine Trimaran an die Anlegestelle. Mond Dawntreader, angezogen wie eine Seefahrerin aus dem Sommervolk, kletterte auf den Pier. Das Haar hatte sie zu Zöpfen geflochten, und über dem dicken Wollpullover trug sie eine Joppe aus Kleyleder. Nachdem sie das Boot im eisigen Schatten der Steilküste vertäut hatte, drehte sie sich um, stemmte die vor Kälte steifen Hände in die Hüften und betrachtete das vor ihr liegende Land.
Außer ihr war niemand an der Anlegestelle; eine uralte Treppe führte im Zickzack den Sandsteinhang hinauf zur Stadt. Hier und da waren die Stufen weiß, wenn man sie frisch behauen hatte. Auf den Steinen stand ein leerer Korb, der an einer Winde befestigt war; mittels dieser Vorrichtung hievte man gefangene Fische und andere Güter nach oben.
Droben lag das Erbgut des Goodventure-Clans, eine Tagesreise in Richtung Norden von Karbunkel entfernt. Während des Winters war es tief unter Schneemassen begraben und völlig von der Umwelt abgeschnitten. Doch jeden Frühling erlebte es eine Wiedergeburt; frische Gräser wucherten am Steilhang, der sich gegen einen strahlendblauen Himmel abhob. Samenkörner, die unter dem Schnee geschlummert hatte, begannen zu keimen. Der Anblick der grünen Böschung hinter dem öden, unfruchtbaren Strand war wie eine Offenbarung, ein Glaubensbekenntnis an die Zukunft...
Mond holte tief Luft und schaute nach unten; dreißig bis vierzig Boote drängten sich an den Docks, schaukelten auf der Reede, waren am Pier vertäut oder auf den schmalen, steinigen Strand unterhalb des Steilhangs gezogen. Sie schien eine der letzten zu sein, die gekommen waren, um das drei Tage dauernde Fest zu feiern. Daß sie noch einen Platz für ihr Boot gefunden hatte, war nicht der Gunst der Herrin zuzuschreiben; für sie als Sommerkönigin hatte man eine Anlegestelle reserviert.
Traditionsgemäß hätte sie, die Königin, die Schirmherrschaft über diese Festivität übernehmen müssen. Von rechts wegen hätte auf den Ländereien der Dawntreaders gefeiert werden sollen, da sie diesem Clan angehörte. Aber die Dawntreaders waren eine unbedeutende Sippe, deren Mitglieder weit über die entlegensten Inseln des Sommers verstreut lebten. Sie besaßen nicht einmal ein nennenswertes Stück Land hier im Norden, sondern wohnten verteilt zwischen den anderen Sommerfamilien, wie sie es seit jeher getan hatten. Im Laufe der Jahre hatte Mond ihre traditionellen Pflichten immer mehr vernachlässigt, sie war viel zu beschäftigt, um ihr Werk zu vollenden, so daß sie für die Pflege von Brauchtum keine Zeit fand.
Deshalb überwachte Capella Goodventure die Festlichkeiten, die alljährlich zu Mittsommer abgehalten wurden, wenn Tiamat einen bestimmten Stand zu den Zwillingssonnen erreichte. Vermutlich war das Große Festival des Wechsels, das gefeiert wurde, wenn Sommer und Winter einander ablösten, auf diese Tradition zurückzuführen. Erst nachdem die Hegemonie von Tiamat Besitz ergriffen hatte, symbolisierte das Fest des Wechsels einen Umschwung in den Machtverhältnissen, wenn die Ausbeutung durch die Außenweltler einheimischer Ignoranz und Rückständigkeit Platz machte. Als Mond daran dachte, fühlte sie sich in ihrem Entschluß bestärkt, und ihr Glaube, daß sie das richtige tat, festigte sich.
Mond hörte, wie Ariele und Tammis die schützende Kabine verließen
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