Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Nach der Mahlzeit spielte Fate manchmal auf ihrer Sithra, und Tor sang dazu, alte Lieder über das Meer und neue Melodien über die Sterne; Lieder, die von Erinnerungen beladen waren und beide an bessere Zeiten erinnerten. Beide Frauen verbrachten die langen Abende nicht gern allein, obwohl keine von ihnen es zugegeben hätte. Doch heute fühlte sich Tor genauso ruhelos wie die große graue Katze, die um Fates Knöchel herumstrich und voller Ungeduld miaute. »Heute bin ich zu kribbelig; ich muß noch was unternehmen«, sagte Tor.
»Schon gut, ich brauche dich nicht«, erwiderte Fate. Sie bückte sich, nahm die Katze auf den Arm und kraulte sie liebevoll unter dem Kinn. »Ich glaube, heute lege ich mich früh schlafen. Das Ganze hat mich doch ziemlich mitgenommen«, sagte sie, ohne näher zu erläutern, was sie so anstrengend gefunden hatte.
»Brauchst du noch etwas vom Markt?«
»Nein, danke.« Fate lächelte und schien Tor aus ihren blicklosen Augen anzusehen. »Später kannst du mir dann erzählen, ob es sich gelohnt hat, für ihn eine schlaflose Nacht zu verbringen.«
Tor lachte und stemmte die Hände in die ausgefransten Taschen ihres Außenweltler-Overalls. »Ich habe nicht vor, mich morgen früh noch an ihn zu erinnern.« Sie trat auf die Straße zurück und schlenderte in die Richtung, in der ihre Lieblingskneipe lag.
Mond seufzte, der steile Weg, der sich in die Höhe schraubte wie eine Spirale, hatte sie ermüdet. Endlich waren sie am Ziel, vor ihnen lag der kreisrunde Alabasterplatz, und dahinter die mit aufwendigen Schnitzereien versehenen Flügeltüren des Palastes. Auf Jerushas Anordnung hin standen am Eingang zwei Wachposten.
Mond blinzelte und riß sich aus ihren Träumereien, die sie auf dem ganzen Weg hierher beschäftigt hatten. Ein Bild, so flüchtig wie Nebel und doch so hartnäckig wie ein Schatten, verfolgte sie; es war die Erinnerung an einen Fremden, der sie einstmals zu diesem Portal gebracht hatte ... der ihr Halt und Führung gab, als sie durch diese sonderbare Stadt irrte, verloren in den Wirrnissen des Schicksals. Eine Nacht lang war dieser Mann ihr Liebhaber gewesen, ehe sein Los ihn für immer aus ihrem Leben verbannte.
Mond betrachtete Jerusha PalaThion verstohlen und spürte Schuldgefühle. Sie hatte Angst, diese kluge, scharfsinnige Frau könne in ihr lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch und dort Dinge entdecken, die besser verborgen blieben. Aber Jerusha blickte starr geradeaus und war in Gedanken versunken.
Jerusha PalaThion war auf Tiamat geblieben, als die Außenweltler den Planeten verließen, weil sie sich von ihren eigenen Leuten verraten fühlte und gelernt hatte, diese Welt zu lieben. Ihre wahren .Beweggründe hatte Mond nie ganz verstanden, aber Jerusha war keine Frau, die ihr Herz ausschüttete. Doch sie konnte sehr gut zuhören, und Mond schätzte ihre Freundschaft wie ein kostbares Geschenk. Wenn es um die technischen Gerätschaften ging, die die Außenweltler als Schrott zurückgelassen hatten, war sie die wichtigste Beraterin, und sie beschützte Mond mit einer durch nichts zu erschütternden Loyalität. Jerusha sorgte dafür, daß während dieser unruhigen Zeit des Übergangs der Frieden in der Stadt gewahrt blieb. Sorgfältig ausgewählte Angehörige des Wintervolks und Sommerleute, die der neuen Königin treu ergeben waren, bildeten die Sicherheitstruppe. -
Vor ihnen schwangen die Torflügel auf. Mond ging schneller und zwang Jerusha, auch ihren Schritt zu beschleunigen, wenn sie mit ihr mithalten wollte. Mond lächelte strahlend, als plötzlich zwei kleine Gestalten auf sie zugestürmt kamen. Sie kniete auf dem harten Boden nieder, fing die Zwillinge mit ausgebreiteten Armen auf und drückte sie fest an sich. Sie staunte immer wieder aufs neue, wie stark ihre Emotionen waren, so wie sie es immer noch nicht recht fassen konnte, daß sie tatsächlich Mutter von zwei Kindern war. Sie küßte ihre Gesichter, umarmte die quirligen, warmen Körper, sog tief den süßen Duft ihrer Haare ein und ergötzte sich an dem Klang ihrer aufgeregten Stimmen.
»Mama, Mama, Gran ist da!«
»... Gran ist da!
Jedes Kind wollte ihr als erstes die Neuigkeit mitteilen. »... Wirklich!«
»Wartet, wartet«, entgegnete sie. »Meint ihr damit, daß meine Mutter hier ist?« Seit sie vor vielen Jahren die Windwärts-Inseln verlassen hatte und nach Karbunkel ging, hatte sie ihre Familie nicht mehr gesehen. Plötzlich sehnte sie sich brennend nach ihrer
Weitere Kostenlose Bücher