Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
zu.
Halb erschrocken, halb erstaunt, blickte die Königin Borah Clearwater an. »Aber er will doch nur einen Zugang ...«
»Ja, heute! Und morgen besticht er dich, damit du ihm ... Hände weg!« schrie er die beiden städtischen Konstabler an, die Jerusha PalaThion mit einem Wink herbeibeordert hatte. Die Konstabler packten ihn bei den Armen und führten ihn trotz seiner Proteste mit Gewalt aus dem Saal.
Danaquil Lu faltete die Hände im Schoß. Kopfschüttelnd sah er die Königin an, während die Versammlung in Gelächter ausbrach. Die Königin wandte sich erneut an Kirard Set. »Deinem Antrag wird entsprochen, Ältester der Wayaways«, sagte sie ruhig und nicht ohne eine gewisse Befriedigung.
Kirard Set lächelte und nickte mit dem Kopf, wie um seine Dankbarkeit zu bezeugen. Doch Danaquil Lu bemerkte den listigen Ausdruck in seinen Augen, die Andeutung einer heimlichen Komplizenschaft. Das Gesicht der Königin verriet keinerlei Reaktion, sie schien diesen vielsagenden Blick nicht einmal zu registrieren.
Danaquil Lu schaute zur Tür, an der jetzt niemand stand, und in Gedanken hörte er immer noch Borah Clearwaters zornige Stimme durch die Säle des Sibyllencollege hallen.
Langsam und schwerfällig stand er auf. Er murmelte eine Entschuldigung und verließ das Ratszimmer durch dieselbe Tür, durch die man Borah Clearwater abgeführt hatte.
TIAMAT
Karbunkel
M utterlose Ketzerin!« brüllte ihr jemand aus einem finsteren Torbogen zu. Gleichzeitig traf sie ein Fischkopf an der Schulter.
Mond Dawntreader blieb stehen und blickte sich kampfeslustig um. »Komm raus, du!« hallte ihre Stimme in der beinahe menschenleeren Straße. »Wenn du eine Beschwerde hast, sag es mir offen ins Gesicht!« Aber die Person, die sie beschimpft und den Fischkopf nach ihr geschmissen hatte, hielt sich versteckt.
»Herrin, soll ich ...?« Jerusha PalaThion riß sich das Gewehr von der Schulter. Sie schaute die stillen Häuserzeilen entlang, die wie aus leeren Augenhöhlen zurückstarrten.
Mond schüttelte den Kopf und drückte den Lauf des Gewehrs hinunter.
»Was ist los, Mond?« fragte Fate Ravenglass, deren blinde Augäpfel unstet hin- und herhuschten.
»Nichts, Fate«, erwiderte Mond.
»Es war nur irgendein stinkender Sommer mit einem Fischgehirn, der durchgedreht ist«, meinte Tor Starhiker, die vierte Frau in der Gruppe. Sie faßte Fate Ravenglass unter und führte sie, als sie weitergingen.
Mond verbiß sich ein Lächeln. »Die Sommerleute haben das Recht mich zu kritisieren, Tor. Schließlich bin ich eine von ihnen. Und beleidige in meinem Beisein nicht mein Volk.« Sie blickte nach unten und befingerte ihr Kleeblattmedaillon. »Selbst wenn es das verdient.«
Der Gestank von verfaulendem Fisch stieg ihr in die Nase. Sie sah die Frauen an, die sie begleiteten. Keine von ihnen war eine Sommer. Für ihre eigenen Leute war es eine große Überraschung gewesen, als man sie beim Wechsel zur Sommerkönigin wählte. Und sie war gewiß nicht die Herrin, die sie sich wünschten – nämlich die symbolische Verkörperung der Meeresmutter, die über die heiligen Rituale wachte und die hochgeschätzten Traditionen pflegte. Sie wollten keine Königin, die tatsächlich Macht ausübte, und die fand, die Methoden der Außenweltler seien ihren jahrhundertealten, bewährten Gebräuchen überlegen. Vor allen Dingen wollten sie keine Herrin, die nicht einmal an die Göttin glaubte.
Schweigend gingen sie weiter, bis sie die Olivine Allee erreichten, eine der zahllosen Straßen, die die schneckenhausförmige Anlage der Stadt wie ein Labyrinth durchzogen. Gepflastert waren sie mit einem offenbar unverwüstlichen Material, das auch nach Jahrhunderten noch keine Spuren der Abnutzung zeigte, egal, wie viele Stiefel oder Wagenräder darüber hinweggegangen waren.
Ein letztes Mal blickte Mond zurück auf das Sibyllencollege, wo tagaus, tagein gearbeitet wurde, um die Geheimnisse der Technologie zu entschlüsseln. Sie konnte gerade noch die transparenten Sturmwälle am Ende der Straße sehen, die die letzten Strahlen der untergehenden Sonne durchließen. Für Mond war es ein anstrengender Tag gewesen.
Heute hatte sie wieder nicht alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte, dennoch waren sie auf ihrem Weg in die Zukunft einen Schritt weitergekommen. Sie begann aufs neue auszuschreiten, und als die Straße steil anstieg, merkte sie, wie müde sie war.
»Hier müssen wir abbiegen.«
Tor Starhikers Stimme riß sie aus ihrer Versunkenheit.
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