Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
»Schlaf gut, Fate«, sagte sie. »Morgen gibt es wieder viel zu tun. Gute Nacht, Tor.« Der Abschied der Frauen fiel bedrückt aus, als hätte sich ihre eigene melancholische Stimmung auf sie übertragen. Mit Jerusha PalaThion an ihrer Seite ging sie weiter, während in ihrem Kopf immer noch die Argumente der Sommer- und der Winterleute kreisten, und ein nagender Zweifel ihr keine Ruhe ließ.
Tor stand da, stützte mit ihrem Arm Fate Ravenglass und schaute der Sommerkönigin nach, die zu ihrem Palast weiterging. »Sie muß heute einen schweren Tag gehabt haben«, sagte sie wie zu sich selbst.
»Kein Wunder«, seufzte Fate. »Diese Ratsversammlungen sind immer eine Prüfung. Der Adel überschlägt sich fast, um beim Aufbau einer neuen Welt mitzuhelfen, und sie können gar nicht schnell genug reich werden. Mit den Sommerleuten diskutieren sie, als ginge es um läppische Hofangelegenheiten, wie damals, als man sich stundenlang ereifern konnte, welcher Hofschranze gerade bei der Schneekönigin in der Gunst stand. Sie scheinen noch gar nicht bemerkt zu haben, daß Mond Dawntreader nicht Arienrhod ist.«
»Aber sie sieht genauso aus wie sie«, hielt Tor ihr entgegen.
Fate stieß noch einen Seufzer aus, während sie auf ihren Laden zuschritten. »Ja, das weiß ich.« Tor schaute sie an. Als die Schneekönigin regierte, hatte Fate mit Hilfe importierter Sensoren auf eine gewisse Weise sehen können; sie war eine Künstlerin gewesen, eine professionelle Maskenmacherin, dazu auserkoren, die Maske für die Sommerkönigin zu entwerfen, die dann beim letzten Fest anläßlich des Wechsels auf Mond Dawntreaders Haupt gesetzt wurde. Doch als die Außenweltler Tiamat verließen, hatte Fate Ravenglass ihre Sehkraft völlig verloren ... wie sie alle auf manche Bequemlichkeit verzichten mußten. Zum Glück fand sie dann im Sibyllencollege eine neue Aufgabe.
Tor, die seit vielen Jahren mit ihr bekannt war, fungierte als ihre Assistentin. Aber die langen Trancen der Sibyllen, die endlosen Fragen, in denen sie keinen Sinn zu erkennen vermochte, das törichte Gezänk unter törichten Aristokraten, erzeugten in ihr ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. Sie wußte nicht, wohin sie gehörte. Trotzdem war sie froh, am Leben der einflußreichen und wichtigen Persönlichkeiten teilnehmen zu können, deren Engagement für eine Sache sie bewunderte. Diese Leute waren wenigstens nicht langweilig.
Ihr eigenes Leben hingegen ödete sie an. Es war genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte: ohne Komfort, eng, überlagert von einem ewigen Fischgeruch. Vor dem Wechsel hatte sie ihr Leben lang für die Außenweltler gearbeitet, und sie vermißte die Vergangenheit mit all ihren Exzessen und Greueln. Um ein Haar wäre sie dieser langweiligen Zukunft entgangen, denn sie hatte vorgehabt, einen Außenweltler zu heiraten und mit ihm Tiamat für immer zu verlassen. Aber das Schicksal hatte ihr – wie so vielen anderen – einen Strich durch die Rechnung gemacht. Man warf Oyarzabal und seine Auftraggeber ins Gefängnis, und als die Flotte der Hegemonie auslief, ließ man sie zurück wie ein leeres gestrandetes Boot.
»Wieso schickt Mond nicht diese verdammten Aristos zum Teufel?« nörgelte sie, reizbar gemacht durch ihre Erinnerungen. »Es gäbe genug Winterleute, die nur darauf warten, ihre Plätze einzunehmen, und die nicht die schlechten Eigenschaften haben, die Arienrhod ihren Günstlingen anerzog.«
Fate lächelte und tastete mit ihrem Stock die Straße ab, was ihr ein Gefühl von Sicherheit und Unabhängigkeit verlieh. »Natürlich, aber die besitzen nicht den größten Teil des Landes.« Der Winteradel war von Arienrhod bevorzugt worden, weil er die Clans repräsentierte, auf deren Ländereien sich die meisten Bodenschätze befanden. »Und nicht alle Adligen sind Idioten; manche von ihnen sind intelligent, erfinderisch und hoch motiviert. Das sind diejenigen, die später einmal eine führende Rolle übernehmen. Hoffentlich werde ich das noch erleben.« Sie lächelte ironisch.
»Bestimmt«, erwiderte Tor. Insgeheim rechnete sie jedoch eher mit einer Rückkehr der Außenweltler als mit der Verwirklichung von Monds Träumen. Sie hob den Blick und konnte den Sommerstern sehen, der jeden Wechsel anzeigte. Als Abschiedsgeste hatten die Außenweltler einen hochkonzentrierten elektromagnetischen Puls auf Tiamat herabgeschickt, der die empfindlichen Teile in allen Geräten verschmorte, die sie zurückgelassen hatten; dabei waren auch Fates
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