Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
die Stürme besänftigt hatte, die früher das schmale Band der Brücke umtobten, konnte man sie ohne Lebensgefahr überqueren, auch wenn einem das Herz dabei schneller schlug. Mond vermied es, nach unten zu blicken, statt dessen schaute sie hinauf in die gewaltige Kuppel, in der die weißen Schleier wie Nebelschwaden hingen. Das Tageslicht verblaßte, und durch die hohen Fenster funkelten die ersten Sterne.
Mond erreichte das Ende der Brücke und stellte ihre zappelnde Tochter auf den Boden, damit sie schon mal voranlaufen konnte. Die Königin blieb stehen, um auf Jerusha zu warten, und eine geraume Weile starrte sie hinunter in die Grube. Das frische Aroma des Meeres trieb ihr den Fischgestank aus der Nase. In diesem Moment brandeten die Ströme der Vergangenheit und der Gegenwart in ihr aneinander, und ein starker Sog drohte, sie mit sich zu reißen. Sie schwankte und mußte kurz die Augen schließen, ehe sie sich umdrehte und den Weg ins Palastinnere fortsetzte. Ihre Kleidung roch immer noch nach Fisch.
Als sie diese Brücke überquerte, hatte sie beiden Völkern getrotzt, den Sommer- wie den Winterleuten. Der Rückweg in die Vergangenheit war ihnen nun versperrt, das Gestern lag so unerreichbar tief in der Zeit wie das Meer drunten in der Grube. Sie konnte nur noch vorwärtsgehen, hinein in den Sommer, und sich zusammen mit der Welt verändern.
Und Gran war gekommen.
Sie versuchte, das Glück, das diese Nachricht in ihr ausgelöst hatte, aufs neue zu empfinden.
Als Jerusha bei ihr war, rutschte Tammis von ihrer Hüfte herunter und nahm seine Mutter an der Hand. Mond blickte auf seine kleine braune Hand, die von ihrer eigenen hellen Haut abstach.
»Wo ist Da?« fragte er, wie jeden Tag.
»Er kann noch nicht heimkommen«, lautete ihre Antwort, wie immer.
»Warum nicht?«
»Weil er so viel zu tun hat.«
»Und wieso kann er es nicht hier tun?«
»Tammis ...«
»Hat er uns denn nicht lieb? Will er nicht hier sein?«
»Natürlich hat er uns lieb.« Sie blickte sich in dem Palast um, den Funke schon viel länger gekannt hatte als sie, und den er nun so sehr haßte, daß er so wenig Zeit wie möglich darin verbrachte. Lächelnd sah sie Tammis an. »Er hat uns alle sogar sehr lieb. Zur Schlafenszeit wird er hier sein und dir ein paar Lieder vorspielen. Eines Tages wirst du verstehen, warum unsere Arbeit jetzt so wichtig ist.«
Obwohl wir nie damit fertigwerden, nicht unsere Generation.
»Und du wirst sie hoffentlich fortsetzen.«
»Ariele auch?«
»Ja, Ariele auch.«
»Ich will mithelfen.« Er klammerte sich an ihre Hand und hopste auf der Stelle.
»Ich weiß.«
»Bist du glücklich, Mama?«
Sie sah ihren Sohn an, und ihr wurde schmerzlich bewußt, daß diese Frage für sie keine Bedeutung hatte. Aber für Tammis war sie wichtig, deshalb antwortete sie lächelnd: »Ja, wenn ich mit dir und Ariele zusammen bin.«
»Und mit Da?«
»Und mit Da.« Sie drückte ihn an sich und wandte den Blick ab. Die Bediensteten, Winterleute, die sich um den Palast und seine Bewohner kümmerten, hielten sich diskret im Hintergrund und warteten nur auf den leisesten Wink von ihr, während sie die vielen Säle durchschritt, die keinerlei Zweck erfüllten. Selbst nach so vielen Jahren fühlte sie sich in der Anwesenheit der Dienstboten immer noch befangen. In der Welt, der sie entstammte, sorgte ein jeder für sich selbst, und nur wenige Leute besaßen mehr Habseligkeiten oder Wohnraum, als sie zum Überleben brauchten.
In ihrer Heimat hätte Arienrhods Palast, der nie der ihre sein würde, die Fläche einer ganzen Insel eingenommen. Jeder Saal war vollgestopft mit sonderbaren und exotischen Stücken, die aus allen Ecken der Hegemonie zusammengetragen waren. Die Möbel, die Teppiche und die Wandbehänge, die exotischen Spielsachen und die Dekorationen waren überall verteilt, wie bizarres, glitzerndes Strandgut, das ein Sturm angeschwemmt hat.
Die meisten Dinge hatte sie gelassen, wo sie waren; und sie redete sich ein, daß sie sie zu Studienzwecken brauchte, wie die von den Außenweltlern zurückgelassenen Artefakte. Doch insgeheim wußte sie, daß eine seltsame Scheu sie daran hinderte, die Sachen anzurühren, sie hatte Angst, das Gedenken an Arienrhod zu verletzen.
Im Laufe der Jahre hatte sie sich an den Anblick von Arienrhods Besitztümern gewöhnt, wie sie sich an die übereifrigen, dienstbeflissenen Lakaien gewöhnt hatte. Doch jedesmal, wenn sie anfing, sich trotz ihrer Gegenwart wohl zu fühlen, war ihr zumute,
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