Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
Geheimnissen, die nach dem Zusammenbruch in Vergessenheit geraten waren; sie suchte nach Informationen, die seitdem absichtlich unterdrückt worden waren. Die Reaktionen innerhalb ihres Körpers manipulierend probierte sie einen Schlüssel nach dem anderen am Wasser des Todes aus. Doch noch trotzte es jedem Versuch, das Problem zu lösen.
Tiefer und tiefer drang SIE suchend in das Herz IHRER Existenz ein, das Technovirus erforschend, der IHR ureigenstes Wesen ausmachte, IHR Schlüssel zum Universum war ... Sie sank in die unbekannten Abgründe aus Weisheit und Torheit, die ihre seit langem toten Vorfahren geschaffen hatten ...
Und endlich fand sie, wonach sie suchte: den Umwandlungsprozeß, der den todbringenden Eindringling in ihrem Körper Schritt für Schritt unschädlich machen konnte. Doch in ihre Begeisterung mischte sich Kummer, denn sie erkannte, daß selbst ein Wunder seinen Preis fordert. Und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn zu zahlen ... Sie schickte die elektrochemische Sequenz in das wartende interaktive Netzwerk, den Computer aus Fleisch und Blut, das lebendige Laboratorium, das ihr Körper darstellte; unterdessen verharrte sie an einem Ende des leuchtenden Gespinstes, das sie mit IHR verband ...
Als die Sequenz vollständig war, wurde sie mit der gleichen Unerbittlichkeit in ihre eigene Existenz zurückgerufen. Doch als der Kontakt verblaßte und sich kräuselnd nach innen umstülpte, verwahrte sie in sich das Echo der Lichtmusik, das sie begleitete wie der Segen einer Mutter ...
»Mond!« Reale Stimmen umgaben sie, stoffliche Hände hielten sie fest, während sich die Farben des endlosen Spektrums zum farblosen Tageslicht vereinten. »Mutter ...«, flüsterte sie. »Ich danke dir, Mutter ...« Sie lag auf den Knien und ließ sich nun vorwärts fallen; die weichen Fasern des handgeknüpften Teppichs drückten sich in ihre Wange.
Irgend etwas spielte sich noch in ihrem Innern ab; eine Verwandlung auf der Molekularebene, ähnlich der,
die sie bei ihrer Sibyllenweihe erlebte, als sie mit dem Virus infiziert wurde ...
Matt und schwindelig rappelte sie sich wieder hoch; sie blickte in Merovys ängstliche, kummervolle Augen.
»Geht es dir gut, Ama?« murmelte Merovy und berührte vorsichtig, beinahe zaghaft, ihre Schulter.
Sie nickte und setzte sich aufrecht hin; dann rieb sie sich das Gesicht und die Augen. »Ach, Herrin ...«, seufzte sie, als ihre Gedanken sich klärten und ihr dämmerte, was passiert war. Allmählich rang sie sich zu der Überzeugung durch, daß sie überleben würde, daß sie verschont geblieben war, daß ihre Gebete erhört wurden ... – und langsam begriff sie, was noch zu tun blieb, und welchen Preis sie für die Rettung gezahlt hatte. Erschöpft und abgekämpft saß sie eine Weile auf dem Fußboden, bis sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie
wieder sprechen konnte. »Merovy ... bring deine medizinische Ausrüstung her.«
Merovy brachte ihr den Koffer. Clavally und Danaquil Lu stellten sich hinter Mond und stützten ihren Rücken. »Hast du eine Spritze?« fragte Mond. »Eine mit einer dicken Nadel, mit der man Blut abnehmen kann?« Merovy nickte. »Ich will, daß du mir etwas Blut abnimmst und es in Reedes Vene injizierst. Das Wasser des Todes ist tot.«
Benommen stand Mond auf; ihre Venen brannten, als sei ihr Blut überhitzt. Clavally und Danaquil Lu mußten sie weiterhin abstützen. »Reede«, sagte sie; sein Blick war bereits auf sie geheftet, und sie sah es ihm an, daß er Angst hatte zu hoffen.
Merovy schaute verdutzt drein. »Aber ...«
»Mond«, hielt Clavally ihr entgegen, »wenn das geschieht, dann infizierst du ihn mit dem Sibyllenvirus.«
Mond schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach sie leise. »Ich bin nämlich keine Sibylle mehr.«
»Keine Sibylle mehr?« Danaquil Lu brach ab.
Clavally riß die Augen weit auf. »Ich denke, so etwas gibt es nicht«, murmelte sie. »Eine Sibylle bleibt man doch sein Leben lang.«
»Es gibt einen Ort, an dem alles möglich ist«, erwiderte Mond mit dünnem Lachen. Sie trat zu Reede ans Bett. Merovy folgte ihr und entnahm Blut aus ihrem Arm. Mond sah zu, wie es tiefrot floß; sie fühlte sich seltsam unbeteiligt und war vielleicht nur ein wenig enttäuscht, weil es nicht in einem geheimnisvollen Licht glänzte.
Mit der Spritze in der Hand wandte sich Merovy Reede zu; Mond sah, wie ihre Hände zitterten. Dann sah Merovy sie noch einmal an, und ihr Blick erinnerte sie daran, daß sie es nicht geschafft hatte,
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