Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
sich vom Anker losgerissen hat.
»Können Sie mir verzeihen?« flüsterte er kaum hörbar.
»Eine Sibylle zu sein war das höchste, was ich mir von meinem Leben erwünscht hatte.« Sie hob den Kopf »Aber es ist eine Art von Freiheit ...« Doch die Erinnerungen würden nie verblassen. Wie könnte sie je vergessen, was sie hinter den Toren der Zeit erlebt und gesehen hatte. Dieses Abschiedsgeschenk hatte man ihr gewährt. »Sie sollten wohl lieber Ariele um Verzeihung bitten.«
Er zog eine Grimasse und nickte. Sie stellte sich Ariele vor, wie sie hoch droben im Weltraum in einem Stasis-Sarg schwebte, in einem Schiff, das durch einen unsichtbaren Schwerkraft-Strang an diese Welt gefesselt war; doch ihr Leben hing von etwas noch viel Heiklerem ab. »Reede, wann können wir zu Ariele ... um sie zu heilen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie können überhaupt nicht zu ihr, Herrin. Noch nicht. Vhanu hat mein Schiff beschlagnahmt. Wenn wir Glück haben, läßt er es nicht ein zweites Ma durchsuchen, solange er weiß, wo ich mich aufhalte. Wenn er die Sache mit Ariele erführe ...«
Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Mond schöpfte tief Atem. »Bei der Göttin!« Ihre Stimme zitterte, und sie merkte, wie sie langsam die Fassung verlor. »Wann wird das endlich aufhören?«
Als er sie anschaute, erkannte sie, daß er sie mit den Augen Vanamoinens sah. »Es hört niemals auf«, murmelte er. »Ein Ende ist nicht vorgesehen. Deshalb gibt es ja uns – Sie und mich. Wir nahmen die losen Fäden der Zeit und verknüpften sie innerhalb des Sibyllensystems. Wir haben den Kreis wieder geschlossen. Vergessen Sie nie, Herrin, was wir gemeinsam erreicht haben. Wir haben das Sibyllennetz geheilt! Vor Jahrtausenden setzte ich einen Prozeß in Gang, und durch uns beide funktioniert er immer noch: Wir haben ein Wunder bewirkt! Sogar zwei ...« Er berührte sein Gesicht; seine Augen strahlten, und sie ließ sich von ihm überzeugen. »Das Rad dreht sich noch«, fuhr er leise fort. »Haben Sie Geduld und Vertrauen. Wir müssen abwarten.«
Seufzend nickte sie; neue Hoffnung keimte auf.
Schließlich wandte er den Blick von ihr ab. »Während des Transfers, als Sie mit der Matrix eine Symbiose eingingen, nahmen Sie Verbindung mit den inneren Zirkeln des Survey auf, nicht wahr?«
Sie erschrak. »Ja«, sagte sie. »Ich – das Netz – drohte ihnen an, was passieren würde, wenn die Jagd auf die Mers weiterginge; sollte das Töten jedoch eingestellt werden, bekämen sie als Belohnung einen Zugang zur Sternkarte. Ich glaube, daß eine Wende eintreten wird, die Frage ist nur, wann ...«
»Wir müssen abwarten.« Er schüttelte den Kopf. »Sonst können wir nichts tun.«
Sie setzte sich ein bißchen gerader hin, und ihr Blick wanderte zu dem Vorhang, hinter dem sich das Fenster zum Meer verbarg. »Die Mers tummeln sich wieder in den Gewässern um Karbunkel. Vhanu will sie jagen lassen. Hat Jerusha Schiffe losgeschickt?« Sie stand auf.
»Das ist nicht nötig«, sagte Reede. Er stemmte sich vom Sessel hoch und zog mit steifen Fingern den schweren Brokatvorhang zur Seite. »Die Mers sind geschützt.«
Mond rührte sich nicht vom Fleck und starrte verständnislos auf das grenzenlose Grau, das sich ihren Blicken darbot. Es gab weder einen Ozean noch einen Himmel; ein Sturm wirbelte alles durcheinander und peitschte mit einer solchen Wildheit Wasser gegen das unzerbrechliche Fenster, daß die Scheibe bebte.
»Eine Sturmflut ...«, murmelte Mond und mußte sich am Tisch abstützen. »So nennen die Winterleute einen Orkan, der den Himmel und das Wasser miteinander vermischt. Beim Sommervolk heißt er der Zorn der Meeresmutter.«
Reede lächelte eigenartig und fuhr fort, sie anzustarren. Nach einer Weile schaute er wieder aus dem Fenster. »Ich möchte gern wissen ...«, sagte er.
»Schon seit Tagen hörten wir Berichte von einem sehr schweren Sturm, der sich längs der Küste bewegt«, erzählte sie. »Aber es hieß, er würde aufs offene Meer abdrehen und Karbunkel verschonen.«
»Statt dessen tobt er sich jetzt direkt über der Stadt aus.«
Zum erstenmal seit Jahren ertappte sie sich dabei, wie sie das Triadenzeichen der Meeresmutter mit absoluter Überzeugung machte. Sie dachte an Capella Goodventure, doch auf einmal schmerzte die Erinnerung nicht mehr. »Solange es stürmt, kann Vhanu seine Jäger nicht hinausschicken. Bis dahin haben die Mers bestimmt ein gutes Stück Wegs zurückgelegt.«
Er nickte. Dann beobachteten beide fasziniert
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