Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
verarzten willst, im Bad sind Erste-Hilfe-Sachen.«
»Nein.« Tammis schüttelte den Kopf und sah zu Boden.
Gundhalinu nickte; er verstand, wieso Tammis seine körperlichen Schmerzen nicht lindern wollte, auch wenn er die Möglichkeit dazu hatte.
»Sie behaupten, Sie seien mein richtiger Vater, und aus diesem Grund wollten Sie sich mit mir unterhalten. Aber Sie kennen mich doch gar nicht. Wie wollen ausgerechnet Sie mich verstehen, wenn ich schon kein Verständnis bei meiner eigenen Familie finde?«
»Sprichst du denn mit ihnen über deine Probleme? Bringst du das fertig?« Gundhalinu setzte sich wieder, dieses Mal näher bei dem Jungen.
Tammis zog die Stirn kraus. »Sie meinen, daß ich mich nicht zwischen Jungen oder Mädchen entscheiden kann? Deshalb ist mir das heute nämlich passiert, wissen Sie.«
»Ich weiß.« Gundhalinu nickte.
Tammis musterte ihn mit finsterer Miene. »Hat Ihr eigener Vater Sie schon einmal als pervers bezeichnet? Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist?«
Gundhalinu schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Aber mein Vater ging ins Grab in der Überzeugung, ich sei ein Feigling. Es gab eine Zeit, da hielt mich jeder, der in meinem Leben eine Rolle spielte, für feige. Manche tun das heute noch, ohne Rücksicht auf die Dinge, die ich mittlerweile bewirkt habe. Außerdem nannte man mich entartet, weil ich deine Mutter liebte, die keine Kharemoughi ist.«
Tammis' Stirn glättete sich. Gundhalinu war sich nicht sicher, über welches Geständnis Tammis mehr staunte.
»Einmal dachte ich sogar, Selbstmord sei eine Lösung für meine Probleme – aber jemand veränderte meine Einstellung.«
»Wer war das?« fragte Tammis mürrisch.
»Deine Mutter.«
Tammis zwinkerte nervös und wandte den Blick ab.
»Hast du schon einmal den Anlauf genommen, mit deiner Mutter über dein Dilemma zu sprechen, oder mit ... mit ...
Funke. Deinem Vater.«
Er brach ab.
In einer hoffnungslosen Geste hob Tammis die Schultern. »Sie hat nie Zeit, um mir zuzuhören, schon seit Jahren nicht mehr. Und sie ist aus dem Sommervolk. Wir müssen zu den Treffen der Sommerclans gehen und unsere Traditionen pflegen, damit wir wissen, wer wir sind, und woran unser Volk glaubt. Die Sommerleute behaupten, jemanden sexuell zu begehren, mit dem man keine Kinder zeugen könne, verstieße gegen den Willen der Herrin.« Aus Gewohnheit machte er mit den Fingern das Triadenzeichen. »Sie sagen, ›die Mutter liebt Kinder über alles‹ – und trotzdem benutzen sie empfängnisverhütende Mittel. Kinder muß man nicht haben, das scheint die Herrin zu akzeptieren, es kommt nur darauf an, daß sich immer Männlein und Weiblein zusammentun.« Seine Stimme nahm einen bitteren Klang an. »Wenn meine Mutter über mich Bescheid wüßte, würde sie ... würde sie ...«
»Würde sie dich dann nicht mehr lieben?«
Er wurde rot, preßte die Lippen zusammen und nickte. »Wie Da. Da ... hat mich einmal erwischt.« Er hob die Hände und ließ sie hilflos in den Schoß sinken. »Ich bin ein erwachsener, verheirateter Mann, ich muß meine Probleme selbst lösen.« Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit deinen Freunden – die aus dem Wintervolk stammen?«
Er zuckte die Achseln. »Was sie wirklich denken, weiß ich nicht. Wahrscheinlich wissen sie es nicht mal selbst. Ein paar von ihnen sind dagegen. Den meisten ist alles egal. Das kommt daher, weil sie wie die Außenweltler sind, sie kennen keine Traditionen und Werte, so wie wir.«
»Du sprichst jetzt von den Sommerleuten?«
Er nickte.
Gundhalinu deutete ein Lächeln an. »Ach, du würdest dich wundern. Auf Kharemough gibt es ein altes Sprichwort: ›Keiner weiß, welche Götter die stärkeren sind – ob meine oder deine.‹ Deshalb verehren wir alle – sicherheitshalber. Auf den Acht Welten gibt es mehr Kulturen als Götter; es gibt Menschen, die keine Hemmungen haben, jemanden zu töten, nur weil er einen anderen Glauben, eine andere Lebensart, oder ein anderes Aussehen hat als sie. Jeder fühlt sich im Recht. Aber es gibt keine absolute Wahrheit, Tammis, nur eine Vielfalt von Meinungen. Die Tiamataner sind nicht die einzigen, die das verwirrend finden.«
»Wie würde man auf Kharemough reagieren, wenn ein Mann sich nicht zu Frauen, sondern zu anderen Männern hingezogen fühlt?«
»Nun ja, das würde wohl von seiner eigenen Kaste und der Kaste seines Liebhabers abhängen.«
Tammis sah ihn verständnislos an.
»Bei uns grassieren unzählige
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