Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
selbstlos jedenfalls würde ich ihn nicht beschreiben.
Als wir noch klein waren, habe ich immer allen erzählt, er hätte als Baby in der Osternacht plötzlich vor der Haustür gelegen und um Einlass gebeten. Und meine Mutter konnte ihn nicht wegschicken, weil er noch nichts verstand. Er durfte dann bei uns bleiben, weil sich niemand meldete, der ihn vermisste. Ehrlich gesagt, hatte ich mir schon als Kind nicht vorstellen können, dass ihn irgendjemand jemals vermissen würde. Außer Rose natürlich, aber die kam ja viel später und ist ganz sicher ein Thema für sich. Denn Rose würde auch niemand vermissen. Ich lade die beiden hin und wieder ein, weil ich die Hoffnung einfach nicht aufgeben will.
Vielleicht würde dieses Weihnachten ja das Wunder bringen, auf das ich schon so lange gewartet hatte.
Was mich wahrscheinlich am meisten an ihm stört, ist die Tatsache, dass Hans-Dieter so missgünstig ist. Er findet grundsätzlich alles idiotisch, was andere Menschen tun, um sich das Leben etwas schöner und angenehmer zu machen. Materielle Güter jeder Art sind ihm ein Dorn im Auge; jedenfalls, wenn diese Güter nicht ihm gehören. Leute, die genügend Geld haben, um sorgenfrei zu leben, haben seiner Ansicht nach unter Garantie Dreck am Stecken.
Ich sah zu ihm hinüber, wie er mit geschlossenen Augen am Herd lehnte und den Brei durch seine Zähne sog.
Nein, dachte ich, er kann unmöglich mein Bruder sein.
Ich stellte die Gläser auf ein Tablett und ging damit ins Wohnzimmer zurück. Im Flur hörte ich, wie Gerald die Kellertreppe hochkam.
19.
Kapitel
Ich stellte die Gläser auf den Wohnzimmertisch und zündete ein paar Kerzen an. Gerald lief hinter mir hin und her. Er schien etwas zu suchen und machte mich ganz nervös.
»Gerald, suchst du was?«
»Ich suche meine Zeitung.«
»Die von vorgestern?«
»Ja, die von vorgestern.«
Ich warf einen unauffälligen Blick auf die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Geralds Päckchen hatte ich auch in Zeitungspapier eingewickelt.
»Ich hatte sie noch nicht ganz durch.«
»Keine Ahnung, wo die ist«, log ich. Was wohl passieren würde, wenn Gerald feststellte, dass ich mit seiner alten Zeitung Geschenke eingewickelt hatte?
»Hier kann man nichts liegen lassen, alles kommt weg«, maulte er.
»Verdammt noch mal, dann räum deine Sachen doch auf, dann legt sie auch keiner weg.«
»Ja, Gundula.«
Es folgte eine kleine Pause.
Ich mag nicht, wenn Gerald »Ja, Gundula« sagt, in so einem ergebenen, erschöpften Tonfall. So ganz ermattet und geschwächt. Geradezu besiegt. Ja, Gundula, gib mir den Todesstoß. Ja, Gundula, soll ich Männchen machen? Er brachte mich damit regelmäßig zur Weißglut. Gerald, das Opfer!
»Wieso sagst du ›Ja, Gundula‹?«
Ich stellte mich vor ihn hin und sah ihn durchdringend an.
»Gott, was ist denn jetzt wieder? Ich sage ›Ja, Gundula‹, weil mir diese Antwort passend erscheint. Und um zu verhindern, dass hier gleich der nächste Streit losbricht.«
»Du sagst also ›Ja, Gundula‹ und denkst eigentlich ›Hey, Alte, halt einfach deinen Mund‹, aber das traust du dich nicht –«
»Erstens würde ich nie sagen ›halt deinen Mund‹, weil dieses Vokabular eher deines ist und nicht meines, und zweitens –«
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und fauchte ihn an: »Weißt du was, Gerald? Manchmal wünschte ich, du würdest sagen: Halt den Mund, damit ich mal spüre, dass du überhaupt noch am Leben bist.«
Gerald starrte mich an. Dann atmete er hörbar ein.
»Ach so.«
»Was, ach so?« Musste man diesem Mann immer alles aus der Nase ziehen?
Er wandte sich zur Tür.
»Gerald, was meinst du mit ›ach so‹?«
Er drehte sich um. Auf seinem Gesicht hatten sich ein paar rote Flecken gebildet. »Ich will das ja immer nicht wahrhaben …«
Wieder Pause. Stille.
»Kannst du einfach mal einen Satz zu Ende sagen, Gerald?«
»Ja, Gundula …« Dann sagte er: »Du langweilst dich mit mir. Oder? Ich bin dir zuwider.«
»Was ist denn das jetzt für ein Quatsch?«
»Weißt du, das Problem ist nicht, dass du einen immerzu beleidigst, daran hab ich mich im Lauf der Jahre ja gewöhnt. Das Problem ist, dass du es nicht mal mehr bemerkst, weil dir alles um dich herum egal ist.«
Das stimmte doch gar nicht.
»Das stimmt doch gar nicht!«
Ich musste versuchen einzulenken. Immerhin war Weihnachten, da wäre es angebracht, ausnahmsweise mal nicht zu streiten.
»Weißt du, Gerald, ich verstehe deinen Unmut über deine
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