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Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Titel: Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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    »Was?«
    »Was bist du denn jetzt so aggressiv, Mami? Ich habe nur vielleicht gesagt, das ist doch nicht verboten!«
    »Nichts ist hier verboten. Man sieht ja, wo das hinführt.«
    »Was meinst du denn jetzt damit?«
    »Du lässt den Kindern zu viel durchgehen.«
    »Zum Glück hast du ja bei mir alles richtig gemacht.« Wenn sie sich streiten wollte, bitte schön, konnte sie haben.
    Meine Mutter war sichtlich irritiert. »Gundula, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze. Du weißt genau, dass man zu deiner Zeit noch gar nicht so weit war mit diesen ganzen Erkenntnissen. Da hat man als Mutter rumprobiert und sich mit anderen Müttern ausgetauscht. Heute würde ich selbstverständlich alles anders machen. Aber hinterher ist man immer klüger.«
    »Was willst du denn damit sagen? Redest du jetzt von mir als Endprodukt oder von dir im Erziehungsprozess?«
    »Gundula, sprich normal mit mir, ich verstehe diese neumodische Psychosprache nicht.«
    »Das war eine ganz normale Frage.«
    »Kind, bitte, nicht an Weihnachten. Du kannst gern ein andermal mit mir über Erziehung im Allgemeinen oder, wenn du möchtest, auch über meine persönlichen Fehler bei deiner Erziehung sprechen, aber heute bin ich einfach zu kaputt. Ich werde dann auch bald schlafen gehen.«
    Das war typisch für meine Mutter, sie riss immer etwas an und machte sich dann aus dem Staub. Wie ich das hasste. Diese unvollendeten Krisengespräche, die dann tagelang wie Spinnennetze an der Decke klebten und das Licht absorbierten. »Wie du willst.«
    Ich öffnete die Haustür und rief über die Schulter: »Wo ist eigentlich Susanne?«
    »Die macht sich frisch! Das werde ich jetzt übrigens auch tun. Furchtbar hier, diese Hitze. Ich dachte, ihr habt es nicht so dicke?« Damit stieg sie Treppen zu Rolfis Zimmer hoch.
    »Wo ist Papi?«
    »Gundula, ich weiß es nicht. Schau doch selbst nach ihm. Ist doch dein Vater.«

18.
    Kapitel
    Rose lehnte am Küchenschrank und las meinem Bruder aus der Bibel vor. Sie sprach sehr leise, und ihre Stimme zitterte vor Ergriffenheit. Hans-Dieter hatte sein Haferbreischüsselchen vor sich und lauschte andächtig. Er schob den Brei mit der Zunge im Mund hin und her und sah aus, als würde er sich diesem Akt des Vorverdauens voller Inbrunst hingeben. Aber vielleicht traute er sich auch nicht zu schlucken, um durch das Schluckgeräusch nichts von der Geschichte zu verpassen. Musste wahnsinnig spannend sein, sie hatten nicht mal mein Eintreten bemerkt.
    »Entschuldige, Rose, dürfte ich mal an den Schrank?« »Die Seelen der Gerechten sind in Gottes Hand, und keine Qual kann sie berühren.« Keine Reaktion.
    Mein Bruder guckte kauend durch mich hindurch. Er hatte glasige Augen und sah aus wie auf Droge. Dann gurgelte er durch den Brei hindurch: »Natürlich, Gundel, ist doch deine Küche, fühl dich wie zu Hause.« Er stupste seine Frau. »Rose, mach doch mal Platz, Gundel muss an den Schrank.«
    Rose gehorchte, während sie weiterlas, und schob ihren fetten Leib ein Stück zur Seite.
    Hans-Dieter dagegen fällt vom Körperbau her ja eher in die Familie der Leptosomen. Das trifft’s genau, schmalbrüstig. Schlaksig, bleich, schlechte Körperhaltung, Hang zu Lethargie und Depressionen. Er hatte schon als Kind einen ziemlichen Knall. Weigerte sich immer, feste Nahrung zu essen, weil er glaubte, alles, was von ihm zerkaut würde, ganz gleich, ob Obst, Fleisch oder grüne Gurken, würde in seinem Magen schreien und weinen, sich dann in seinem Innern zusammenrotten und einen Racheakt an ihm verüben oder sich in Form einer schweren Krankheit an ihm rächen.
    Meine Mutter musste alles pürieren oder mahlen, sonst aß er gar nichts. Wenn Sie mich fragen, im wahrsten Sinne ein gefundenes Fressen für jeden Psychiater. Na ja. Jedenfalls war Hans-Dieter schon immer fürchterlich mager und schwächlich. Jetzt bekam er auch noch eine kreisförmige Glatze am Hinterkopf. Ich würde ihm bei Gelegenheit sagen müssen, dass Männer mit solchen Glatzen prädestiniert für Herzkrankheiten aller Art sind.
    Ich fragte mich, ob er wirklich mein Bruder ist. Anders als ich ist er charakterlich schwierig. Denkt nur an sich. Trotzdem hat er sich in den Kopf gesetzt, die Welt mit seinen Lebensratgebern zu retten. Macht keinen Sinn für mich. Aber er redet von nichts anderem als davon, dass die Menschen durch seine Büchlein Zugang zum wahren Glück erlangen würden. Dumm nur, dass niemand die Büchlein kaufen will. Das verletzt ihn sehr. Als

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