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Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)

Titel: Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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er immer liebevoll und treu gewesen. Gundula, du kannst dir das gar nicht vorstellen, hatte sie gesagt. Er ist nicht wiederzuerkennen. Die ganzen letzten Monate habe ich mich gefragt, was er auf einmal gegen mich hat. Er meckert nur an mir rum und macht mich für alles verantwortlich.
    Dann hatte sie ganz unvermittelt zu weinen begonnen. Schließlich fing sie sich wieder und sagte: Und ich hatte mich so auf unseren gemeinsamen Lebensabend gefreut.
    Sie ließ sich nicht beirren und sagte dann, dass er immer aus dem Haus ging, ohne ihr zu sagen, wohin und wann er zurückkommen würde. Und wenn sie ihn fragte, wo er war, sagte er, das wäre ganz allein seine Sache. Und in dieser Nacht war er gar nicht nach Hause gekommen. Sie schluchzte auf. Das ist so demütigend, ich weiß nicht, was ich tun soll, sagte sie.
    Man hatte meinen Vater in der Morgendämmerung auf einem Kinderspielplatz entdeckt. Er saß zitternd oben auf der Plattform einer Rutschbahn und wusste nicht mehr, wie er wieder auf den Boden gelangen sollte. Das junge Pärchen, das ihn zum Glück auf dem Nachhauseweg von der Disco dort entdeckt hatte, nahm sich seiner an und brachte ihn zur nächsten Polizeiwache. Nachdem er einen Kaffee getrunken und sich aufgewärmt hatte, konnte er sich plötzlich wieder an seinen Namen erinnern. Daraufhin brachte man ihn zu meiner Mutter zurück.
    Die Diagnose war klar.
    Für meine Mutter war es damals sogar eine Erleichterung, dass nicht sie die Ursache für die Wesensveränderung meines Vaters war.
    Ich schüttelte die Gedanken an diese schreckliche Krankheit ab, atmete tief durch und wischte mir die Tränen aus den Augen. Es war bitterkalt, und das tröstete mich ein wenig. Denn es ist immer besser, wenn das Wetter schlecht ist, wenn man sich mies fühlt, dann kann man sich dem Elend inbrünstiger hingeben.
    Gulliver schienen Regen und Kälte nichts auszumachen, er trabte zielstrebig zum nächsten Baum und hob sein Bein. Othello zog ich wie so oft an seiner Leine hinter mir her. Freiwillig würde er keine Pfote in den Regen setzen. Ich drehte mich nach ihm um, um ihn ein bisschen anzutreiben, als ich hinter mir in der Dämmerung eine Gestalt wahrnahm. Sie winkte mir und schien etwas zu rufen. Ich blieb stehen und erkannte Gerald.
    »Gundula! Warte doch mal!«
    »Was ist denn? Gibt es einen Notfall?«
    Gerald hatte mich eingeholt und schnaufte wie nach einem Hundertmetersprint. Er trug keinen Mantel.
    »Gerald, du holst dir doch den Tod. Warum hast du dir nichts übergezogen?«
    Er zögerte und schien nach den richtigen Worten zu suchen.
    »Gundula, wie soll ich das sagen … Ich habe … dein Gesicht … gesehen.«
    »Was meinst du damit?«
    Sein Atem beruhigte sich langsam, und er dachte nach, während er neben mir ging. Es rührte mich, dass er mir bei diesem Wetter hinterhergerannt war. Sicher machte ihm sein Übergewicht ganz schön zu schaffen.
    »Weißt du, Gundula.« Er nahm vorsichtig meinen Arm. »Das hört sich jetzt vielleicht komisch an, aber … mir ist vorhin das erste Mal aufgefallen, wie nah dir die Krankheit deines Vaters geht … Du redest ja nie darüber, aber ich weiß jetzt, glaube ich, ungefähr, was du fühlst. Und das tut mir sehr leid. Das wollte ich dir nur sagen.«
    Ich blieb stehen. Mit rauer Stimme sagte ich: »Ach, Gerald. Es tut mir leid, dass ich manchmal so böse zu dir bin.« Ich schniefte. »Ich fühl mich nur immer so allein … also jetzt nicht nur wegen meinem Vater, sondern wegen der ganzen Situation hier mit diesen Verrückten … und dann bekomme ich manchmal so eine Wut auf dich. Weil du mich alleinlässt, aber du kannst eben nicht anders.«
    »Ja«, sagte er, »so ist es wohl.«
    »Wie meinst du das jetzt?«
    Aber Gerald antwortete nicht. Stattdessen blieb er stehen und starrte auf seine Schuhe.
    »Gerald?«
    Gerald sah mich von der Seite an und sagte nichts.
    »Gerald. Jetzt rede doch mal. Ich meine, wir sind doch zufrieden miteinander. Natürlich gibt es mal den ein oder anderen Krach, aber im Grunde sind wir doch eine ziemlich nette Familie.«
    »Ja«, sagte Gerald, »ziemlich nett. Das sind wir.«
    »Wieso sagst du das so komisch?«
    »Was?«
    »Na, mit dem ziemlich nett, dass wir ziemlich nett sind? Findest du das nicht?«
    »Doch, deswegen sag ich’s ja.«
    »Aber du meinst es nicht?«
    Er schwieg.
    »Gerald. Ich kenne dich doch. Du meinst was anderes.«
    »Nein. Ich meine genau das. Und das macht mich traurig.«
    »Verstehe ich nicht. Lass uns zurückgehen, mir ist

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