Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
ziehen und dich dann auffangen.«
Wir nahmen Vatis Arme und schoben ihn langsam zurück in die Toilette. Der Anblick seiner Frau hatte ihn beruhigt. Ich beobachtete meine Mutter von der Seite und fragte mich, warum er sie noch erkannte und mich nicht.
Ich existierte in seinem Leben nicht mehr.
22.
Kapitel
Heiligabend. Wir hatten ihn unverletzt und einigermaßen harmonisch erreicht. Jetzt saßen wir alle um den Weihnachtsbaum herum und packten unsere Geschenke aus.
Wirkliche Überraschungen gab es auch in diesem Jahr nicht. Wir sind keine besonders phantasievolle Familie.
Für Gerald hatte ich einen kleinen Zeitungsständer von einer schwedischen Möbelkette ausgesucht. Der fügte sich schön in das Gesamtbild unserer Einrichtung, und Gerald musste nicht mehr im ganzen Haus nach seinen Zeitungen suchen.
Mein Mann verzog keine Miene, als ich ihm das Päckchen aus Zeitungspapier auf den Schoß legte.
Von ihm bekam ich eine Hummerschere (ich dachte zuerst, es sei ein Nussknacker, wir essen nicht so oft Hummer) und ein Handpflegeset, bestehend aus ein paar Küchenhandschuhen und einer sehr schönen Handcreme, weil ich mich immer über meine rauen Hausfrauenhände beklage. Ich glaubte, die Sachen bei dem Kaffeeanbieter gesehen zu haben. Die haben natürlich aber auch immer prima Angebote. Die Nicole-Kidman-Uhr trug ich auch zur Feier des Tages.
Von den Kindern bekam ich einen Kinogutschein. Sie spekulierten wahrscheinlich darauf, im Gegenzug von mir eingeladen zu werden, damit wir einen gemeinsamen Kinonachmittag machen konnten.
Bemerkenswert war das Geschenk meiner Mutter an Susanne. Sie überreichte ihr einen klobigen goldfarbenen Bilderrahmen, den ich noch aus meiner Kindheit kannte.
Ich erinnerte mich sofort daran, weil sie schon damals vor jedem größeren Fest überlegt hatte, wen sie mit diesem Rahmen beglücken könnte. Jetzt strahlte sie übers ganze Gesicht, und wer meine Mutter nicht kannte, hätte meinen können, sie schenke wirklich von Herzen.
Susanne nahm den Rahmen und betrachtete ihn misstrauisch. »Ganz schön schwer, Ilse. Wie habt ihr den denn hergebracht?«
»Ja, der ist massiv«, sagte meine Mutter und nickte begeistert. »Aber ich habe mir gedacht, er passt zu dir, du magst es ja rustikal.«
Susanne lachte auf und setzte sich dann kommentarlos wieder in ihre Sofaecke.
Ich betrachtete meine Mutter. Bei manchen Menschen kann man sich wunderbar darauf verlassen, dass sie sich nicht verändern. Bei ihr hätte eine kleine Veränderung zum Positiven wahrscheinlich Berge versetzt. Aber sie war sich zeit ihres Lebens treu geblieben: Sie war unberechenbar, trotzig und konnte regelrecht bösartig werden, wenn man ihr irgendeine Schuld zuwies. Sie klammerte sich an unliebsame Eigenschaften, als würde sie Halt auf einem wild gewordenen Pferd suchen.
Ich habe zum Beispiel als Kind sehr darunter gelitten, von ihr immer nur Sachen zu bekommen, mit denen sie selbst nichts anfangen konnte. Und Herr Mussorkski sagt, dass ich wegen meiner Mutter so bin, wie ich bin. Dass die wenigsten Frauen so sein wollen wie ihre Mutter, ihnen jedoch im Verlauf des Abgrenzungsversuchs unbewusst immer ähnlicher würden. Um zu sehen, was schiefläuft, müsse man in sich hineinsehen und das, was man sehe, bewerten. Ich habe in mich hineingesehen, aber es war nur dunkel. Wie ich in mich hineinsehen solle, wenn es in mir drin so dunkel sei, habe ich ihn gefragt. Das sei ja der Schlüssel zum Erfolg, hat er gesagt. Sie müssen das Licht anknipsen!
Ehrlich gesagt, verstehe ich ihn manchmal überhaupt nicht, aber es tut trotzdem gut, sich hin und wieder jemandem anzuvertrauen. Herr Mussorkski hatte mir auch den Tipp gegeben, meine Mutter grundsätzlich darauf anzusprechen, wenn mich etwas an ihr störte.
Das wollte ich tun. Auch am Heiligen Abend.
»Mutti, wo hast du den denn gefunden? Ich dachte, du kannst mit Papi gar nicht mehr vor die Tür?«
Meine Mutter reichte meinem Vater ein Glas Sekt und tat so, als hätte sie mich nicht gehört.
»Mami?«
»Ja, was ist denn?«
»Wo hast du den Rahmen her?«
»Das spielt doch jetzt gar keine Rolle, Gundula!« Sie warf mir einen warnenden Blick zu.
Ich ließ nicht locker. »Mich interessiert es aber!«
»Meine Güte, das ist doch vollkommen unwichtig. Das Wichtigste ist doch, dass Susanne sich freut.«
»Ach, freu ich mich?«, hauchte Susanne.
Meine Mutter guckte Hilfe suchend zu ihrem Mann: »Edgar, deine Tochter möchte wissen, wo wir diesen Rahmen herhaben. Wo haben
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