Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
verschwundene alte Zeitung. Aber ich kann mich jetzt einfach nicht mit deinem Problem abgeben, gleich ist Bescherung.« Dann setzte ich hinzu: »Und wenn du mal ein bisschen mitdenken würdest, würdest du jetzt auch nicht nach deiner beschissenen Zeitung suchen, sondern mich fragen, ob du mir bei irgendwas helfen könntest.« Jetzt redete ich mich in Rage: »Und ich finde es unmöglich von dir, dass du dir für deine Diskussionen immer den Zeitpunkt aussuchst, an dem du ganz sicher sein kannst, dass ich keinen Widerstand leisten werde, weil ich mich durch den Stress, in dem ich gerade bin, nicht auf gleicher Augenhöhe mit dir befinde.«
Obwohl ich meinen Satz richtig gut fand, brach ich sofort in Tränen aus.
Gerald sagte: »Versteh ich nicht.«
»Was?«
»Na, ich verstehe nicht, was du meinst. Warum du mich schon wieder angreifst?«
»Ich greife dich nicht an, ich erkläre dir meine Situation.«
»Gundula, lassen wir’s gut sein. Ich fühle mich dem Ganzen nicht mehr gewachsen.« Er ging mit hängenden Schultern zur Tür.
»Gerald, jetzt stell dich doch nicht so an.«
Er drehte sich ein letztes Mal zu mir um. »Darf ich dir für die Zukunft einen Tipp geben? Erst denken, dann reden.«
20.
Kapitel
Sie werden jetzt vielleicht denken, dass da nicht mehr viel zu machen war. Dass wir einfach nicht zusammenpassen. Ich habe Gerald wirklich lieb. Aber wenn man so lange wie wir zusammen ist, schleifen sich manche Dinge ein, und man bekommt die Kerben nicht mehr raus. Sie werden immer tiefer, und irgendwann findet man sich einfach damit ab.
Gerald war der erste und einzige Mann in meinem Leben und ich die einzige Frau für ihn. Es ist nicht so, dass wir uns irgendwann vor Leidenschaft nacheinander verzehrt hätten. Aber wir kommen beide aus einer Kleinstadt, und da war die Auswahl überschaubar. Ich habe schon hier und da Kompromisse gemacht, wie den mit der Schlagermusik, das hab ich ja schon erwähnt. Und ich finde mich damit ab, dass ich meinen Beruf für die Kinder aufgegeben habe und jetzt angeblich zu alt bin, um irgendwo noch Arbeit zu finden. Ich würde wirklich gern was arbeiten. Man wird immer enger im Kopf, und die Sehnsucht nach neuen Erfahrungen nimmt zu. Vielleicht ist das auch einfach die Midlife-Crisis und ganz normal in meinem Alter. Aber mich macht es traurig, weil ich weiß, dass sich nichts mehr groß in meinem Leben ändern wird.
Ich sehe es direkt vor mir: Irgendwann sind die Kinder aus dem Haus, und dann wird es ganz furchtbar. Dann sitze ich tagaus, tagein mit Gerald im Wohnzimmer und gucke ihm beim Zeitunglesen zu. Und höre Schlagermusik. Schrecklich. Ich sitze eingeklemmt in dem einzigen freien Sessel und versuche über die riesigen Zeitungsberge zu gucken, die sich links und rechts von mir auftürmen. Wir sprechen nicht mehr miteinander, denn Gerald ist zu konzentriert auf seine Lektüre. Ab und zu habe ich Ausgang, dann besuche ich die Kinder und passe auf die Enkel auf.
Düstere Aussichten.
Ich hätte so wahnsinnig gern eine glückliche, fröhliche Familie, in der alle zusammenhalten. Aber irgendwie funktioniert das bei uns nicht. Obwohl ich alle Zeit der Welt hätte, überfordert mich schon die bloße Kindererziehung. Wahrscheinlich ist das die Angst vor dem Scheitern. Dass man also deswegen ganz viele Sachen gar nicht mehr anpackt im Leben, weil man schon vorher denkt, dass es nicht klappt. Deswegen schaffe ich es ja auch nicht, die Familie zu Weihnachten auszuladen. Ab und zu versuche ich gegenzusteuern, wie zum Beispiel, dass ich die Enten kaufe, obwohl mir alle davon abgeraten haben.
Aber dann denke ich, man muss den Kindern doch ein Vorbild sein. Das sind so die Sachen, die mich nächtelang beschäftigen. Ich mache dann kein Auge zu. Und am nächsten Morgen bin ich müde und habe schlechte Laune, wenn meine Familie beim Frühstückstisch sagt: Mama, stell dich doch nicht so an, du kannst dich doch gleich wieder ins Bett legen. Du bist die Einzige hier, die nicht arbeiten muss.
21.
Kapitel
»Hallo! Hilfe!«
Die Stimme meines Vaters. Sie kam aus dem Klo im Erdgeschoss. Ich versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war abgeschlossen.
»Papi, du musst die Tür aufschließen, dann lässt sie sich auch öffnen!«
»Hallo!«
»Papi, du musst den Riegel zurückschieben, dann kannst du die Tür öffnen. Du hast dich eingeschlossen!«
»Hören Sie mich?«
»Ja, ich höre dich, ich bin’s, Gundula. Schieb einfach den Riegel zurück!«
»Hallo? Hilfe!«
Oh, mein Gott. Ich
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