Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
Pause und sah mich an. Aber sie nahm mich nicht wahr. Ihre Empfindungen kreisten um ihr eigenes Leben.
»Es ist so schlimm, dass es immer weiter bergab geht und dass man ohnmächtig danebensteht und den Untergang mit ansehen muss. Vollkommen hilflos. Was mich am traurigsten macht, ist, dass ich nicht der Mensch bin, der ich zu sein glaubte. Ich bin böse, ich bin ungeduldig. Und gehässig. Ich behandle ihn absichtlich schlecht, damit sich etwas in ihm rührt. Aber wie sollte das gehen? Er findet den Weg nicht mehr hinauf zu uns.«
Wir saßen auf Rolfis Bett, und ich dachte darüber nach, ob sie sich wohl jemals für mich interessiert hatte. Wann hatte sie mich jemals aus ganzem Herzen gefragt, wie es mir ging, ob ich glücklich in meiner Ehe war, ob ich jemanden zum Reden brauchte. Der Alkohol hatte meine Traurigkeit für kurze Zeit gedämpft, aber jetzt schlug die Verzweiflung über das alles mit voller Wucht zu. Auch ich musste weinen.
»Siehst du, für dich ist es auch nicht leicht, einen Trottel zum Vater zu haben.«
»Nein, das ist es nicht, Mami, ich bräuchte nur … ich hätte nur so dringend jemanden zum Reden gebraucht, aber alle reden immer nur von sich.« Ich atmete tief ein.
Ich startete einen erneuten Versuch. »Und außerdem hatte ich mich so auf unser Fest gefreut. Und jetzt geht es so schief.«
»Ach, so würde ich das nicht sehen, ist doch eigentlich wie jedes Jahr. Aber was machen wir jetzt mit deinem Vater?«
»Ich kümmere mich um ihn«, sagte ich. »Ich gebe ihm seine Pillen und bring ihn ins Bett, damit du mal schlafen kannst.«
»Das ist lieb von dir. Gib ihm fünf, dann hast du drei Stunden Ruhe.«
»Okay.« Dann stand ich auf. »Gute Nacht, Mami. Gute Nacht, Mätzchen, schlaft schön.«
27.
Kapitel
Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf die oberste Treppenstufe. Unten trällerte noch immer Helene Fuscher ihren neuesten Hit. Mir war elend zumute. In meinem Kopf flirrten die Bilder des Abends durcheinander, und ich schaffte es nicht mehr, sie zu sortieren.
Ich sah Gerald vor mir. Eigentlich hatte ich mit ihm wirklich Glück gehabt. Ich glaube schon, dass ich ihm vertrauen kann. Das ist der Vorteil an phantasielosen Männern, sie sind einem treu. Klingt jetzt vielleicht boshaft, ist aber so.
Ich habe neulich gehört, dass Frauen bei der Partnersuche am liebsten Männer wählen, die verheiratet sind oder sogar Familie haben. Singles sind für sie uninteressant. Ich würde bei einem Single um die fünfzig auch denken, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Einen verheirateten Mann allerdings würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen.
Mir wurde ganz heiß, weil ich plötzlich so dankbar dafür war, dass ich schon einen Mann zu Hause hatte und nicht mehr auf die Suche gehen musste. Zumal wir Frauen ja bevölkerungstechnisch gesehen in der Überzahl sind. Und die Konkurrenz schläft nicht.
Ich war auf einmal erleichtert, meinen Gerald zu haben. Ich würde ihm das später sagen und mich für meinen Ausrutscher entschuldigen. So was war mir noch nie passiert. Der Heilige Abend überforderte mich eindeutig.
Plötzlich sah ich das nächste Weihnachtsfest vor mir: Mein Vater und ich sind an zwei Stühle gebunden, damit wir nicht weglaufen können. Ich habe auch Alzheimer. Man weiß ja, dass sich die Krankheit vor allem von den Vätern auf die Töchter überträgt. Na ja, jedenfalls feiert die ganze Familie und singt ausgelassen Weihnachtslieder. Wir gucken den anderen beim Feiern zu und wissen nicht mehr, wer und wo wir sind. Todesangst hält uns umklammert. Es ist heiß und stickig, und wir sind durstig, aber dass wir durstig sind, wissen wir ja auch nicht mehr. Dann klingelt es, und die Pfleger holen uns wieder ins Heim zurück. Im Flur sagen sie: Na, wo sind denn unsere Pappenheimer? Dann kommen sie und tragen uns in den bereitstehenden Transporter. Das ist schon heftig, wenn’s gleich noch die Tochter mit erwischt, sagt ein Pfleger zum anderen.
Ich stöhnte bei der Vorstellung laut auf und schüttelte mich. Ich hatte wirklich zu viel getrunken.
»Was machst du da, Gundula?«
Gerald stand am Fuß der Treppe und guckte zu mir hoch. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
»Nichts.«
»Das sehe ich. Verdammt noch mal, jetzt komm endlich runter! Ich steh da unten ganz allein auf weiter Flur!«
Ich stand also langsam auf und schleppte mich die Treppe hinunter.
»Na, streitet ihr wieder?« Ricarda und Rolfi waren in den Flur gekommen und suchten die
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