Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
einer so charmanten Bitte widerstehen.« Er genoss den Abend wirklich außerordentlich. Vielleicht würde das Fest doch noch was werden.
»So, Edgar, jetzt ist es genug. Ich bringe dich ins Bett. Es ist auch gleich zehn, und wir sind alle müde.« Meine Mutter konnte eine echte Spielverderberin sein. Aber sie versuchte wenigstens, sich zusammenzureißen, obwohl sie vor Eifersucht kochte.
»Mami, lass ihn doch«, sagte ich und hielt meinem Vater auch mein Glas hin. Die Kinder hatten sich auf dem Wohnzimmerteppich verteilt und beobachteten fasziniert das Geschehen.
»Nein. Ich lasse ihn nicht. Er lässt mich ja auch nie.«
»Ilse, Edgar ist krank. Das kannst du doch gar nicht miteinander vergleichen.« Susanne hängte sich schon wieder gefährlich weit aus dem Fenster.
»Du musst es ja wissen, Susanne. Und Edgars Krankheit jetzt so schamlos auszunutzen finde ich ehrlich gesagt ziemlich unanständig.«
»Was hab ich denn ausgenutzt?«
»Du flirtest mit einem wehrlosen Mann.«
»Was tue ich? Du warst doch immer diejenige, die sich an jeden rangeschmissen hat.« Susannes Gesicht hatte die Farbe eines Christsterns.
Meine Mutter lachte auf. »Selten so einen Käse gehört.«
»Also das wird mir nun wirklich zu persönlich. Ich würde vorschlagen, dass ich ein bisschen vorlese, damit wir auf andere Gedanken kommen«, sagte mein Bruder.
»Hadi, wir müssen uns auch langsam auf den Weg machen.« Wir entdeckten Rose auf dem Boden neben der Krippe. »Wir müssen ja die U -Bahn nehmen wegen des Alkohols.«
»Rose, was machst du denn da unterm Christbaum?«, fragte ich.
»Ich muss dreimal am Tag meditieren, damit die Synapsen durchgängig bleiben.«
»Die was?«
»Die Synapsen. Die verbinden den Körper mit dem Geist, und wenn die blockiert sind, gerät alles durcheinander, und es kann nichts mehr fließen.«
»So so«, sagte mein Vater trocken.
»Hilft das auch gegen Kopfschmerzen?« In meinem Kopf fing es nämlich verdächtig an zu klopfen.
»Mama, was hast du denn jetzt wieder?«, fragte meine Tochter.
»Sie ist betrunken«, sagte Matz und nickte fachmännisch.
Endlich sagte Gerald was: »Komm, Ilse, trink einen mit uns. Das macht dich lockerer.«
»Wie meinst du das?«, fragte meine Mutter misstrauisch.
Ich trat unter dem Tisch nach Gerald und traf etwas Hartes.
»Autsch!« Gerald guckte mich an. »Du spinnst wohl!«
»Wer spinnt?«, fragte meine Mutter.
»Nein, nicht du … es ist bloß … Ich meine …« Er hatte den Faden verloren und rieb sich sein Schienbein. »Langsam reicht’s mir.«
Meine Mutter stand auf. »Mir übrigens auch. Edgar, kommst du? Sonst musst du nämlich allein ins Bett.«
»Wieso soll ich nicht allein ins Bett finden? Ich wohne hier«, antwortete mein Vater und zwinkerte Susanne zu.
»Gut, wie du willst. Ich gehe jetzt.« Meine Mutter schickte ein »Gute Nacht« in die Runde und verließ den Raum.
»Warte, Oma, dann will ich bei dir schlafen!«, rief Matz und rannte hinter ihr her.
Ich war gerührt. Er hat ein sicheres Gespür für gekränkte Menschen, dachte ich bei mir. Er kann niemanden leiden sehen. Dann fiel mir Rüssel ein, der sicher anderer Meinung war und wohl noch immer unterm Schrank hockte.
»Na denn, prost. Fröhliche Weihnachten!« Susanne hob ihr Glas, und wir prosteten uns noch einmal zu.
Dann hörte ich wieder Roses Stimme: »Gundula, wir brauchen noch einen Plan für die öffentlichen Verkehrsmittel.«
»Und einen Stadtplan«, sagte mein Bruder. »Aber jetzt würde ich wirklich gern noch kurz aus meinem Buch vorlesen. Das wird euch jetzt guttun. Ihr könnt es übrigens auch käuflich erwerben. Ich habe extra ein paar Exemplare für euch mitgebracht.«
»Wie teuer ist es denn?«, fragte Susanne.
»Normalerweise kostet es fünfundzwanzig Euro, aber ich würde es euch für zwanzig Euro überlassen.« Er lächelte und fügte hinzu: »Weil Weihnachten ist.«
Ich betrachtete das dünne Heftchen in seiner Hand und überlegte, wie viele Monate er sich wohl mit dem kläglichen Inhalt abgemüht haben mochte.
»Na gut«, sagte Hans-Dieter, weil keiner von uns auf sein Angebot einging. »Ihr könnt es euch in Ruhe überlegen. Wir sind ja noch ein bisschen zusammen.«
Dann begann er: »Kapitel eins, Der Aufbruch, Untertitel: Lass deine Seele knospen. Der wahre Weg zum Miteinander.«
26.
Kapitel
»Mami?« Ich war meiner Mutter gefolgt und betrat Rolfis Zimmer. Sie war nicht da, aber Matz lag schon auf der Gästematratze. »Mätzchen?«
»Ja?«
»Gib
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