Tief durchatmen, die Familie kommt: Roman (German Edition)
zu, du hast dir nicht die Zähne geputzt.«
»Doch!«
»Matz, du schwindelst, da kommt ein kleines Rauchfähnchen aus dem Bett.« Das sagten wir immer, um den Kindern zu zeigen, dass es keinen Sinn machte, uns anzuschwindeln.
»Das ist kein Rauchfähnchen, ich hab gepupst.«
»Matz! Schäm dich. Und jetzt putz dir die Zähnchen, du Lump, sonst kriegst du dein erstes Gebiss, wenn du so alt bist wie Ricarda. Willst du das?«
»Ricarda hat doch auch noch kein Gebiss, obwohl die sich nie die Zähne putzt.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Wohl stimmt das.«
Ich verspürte eine leichte Erschöpfung. »Aber morgen früh werden die Zähne dann gleich geputzt, ja?«
»Morgens kann ich keine Zähne putzen«, sagte Matz. »Weil das Müsli sonst eklig schmeckt.«
»Matz, dann putzt du dir die Zähne eben nach dem Frühstück.«
Ich gab ihm einen dicken Kuss und richtete mich auf.
»Was ist eigentlich aus Rüssel geworden? Klemmt der noch immer unterm Schrank?«
»Weiß nicht.«
»Und wenn Hans-Dieter oder Rose ihn nachher aus Versehen zertreten? Also Rose würde das mit einem Schritt schaffen, so dick, wie die ist.« Manchmal musste man zu unmoralischen Mitteln greifen.
Matz machte große Augen, und ich konnte mir vorstellen, was er vor sich sah: Rüssel platt getreten, alle viere von sich gestreckt, das Maul zu einem letzten Schrei aufgerissen und den Blick in wilder Panik nach oben gerichtet. Dahin, wo Roses Fuß auf ihn herabgesunken war, um ihn zu zerquetschen. Am heiligen Weihnachtsabend.
»Daran hab ich gar nicht gedacht, Mama.«
»Das denke ich mir«, sagte ich.
»Gundula, was machst du hier?« Meine Mutter kam herein. Sie trug ihr Nachthemd und hatte sich das Gesicht mit einer weißen Paste eingeschmiert.
»Oma, was hast du da auf dem Gesicht?«
»Das ist die Faltenmaske von Susanne. Kann nicht schaden. Ich dachte mir, wenn ich sie gleich die ganze Nacht drauflasse, bewirkt sie vielleicht sogar was.«
»Was soll die denn bewirken?«
»Sie frisst Falten«, sagte meine Mutter, und Matz verzog schmerzhaft das Gesicht.
»Mami, komm mal her.« Ich nahm meine Mutter in den Arm.
»Ach, Gundula, das Leben ist nicht gerecht. Ich wünsche dir, dass du so etwas nie erleben musst.«
»Was meinst du denn?«
»Alles.«
»Wie, alles?« Typisch meine Mutter. Sie drückte sich in den seltensten Fällen klar aus.
»Dass dein Mann sich mitten im gemeinsamen Leben plötzlich von dir abwendet und sich ein neues Leben erschafft. Das tut so weh. Wenn die gemeinsamen Erinnerungen ausgelöscht sind. Wenn die Liebe nicht mehr existiert.« Sie schluchzte auf. Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Ach, Mami.«
»Weißt du, da ackert man sein ganzes Leben und versucht, alle Konflikte zu überstehen und zusammenzubleiben, das ist nicht immer so leicht, ein Leben zu zweit kann sehr lang sein … Und dann kommt man in ein Alter, in dem alles ruhiger wird und eigentlich gut, in dem man sich mit dem andern über Kleinigkeiten freuen kann, weil das Große hinter einem liegt, man freut sich auf den gemeinsamen Lebensabend und darauf, alles, was man noch erleben darf, mit dem andern zu teilen. Und dann«, sie schluchzte wieder auf, »dann verliert dieser Mensch, der dir ein Leben lang so nah war wie niemand sonst, plötzlich das Gedächtnis, und du stehst ganz allein da, mit all den Erinnerungen, die du mit niemandem mehr teilen kannst.«
»Aber ich bin doch auch noch da, Mami …«
Aber sie erzählte einfach immer weiter. »Und was das Schlimmste ist, du wirst degradiert zu einer Art Pflegepersonal. Und dann verlierst du dich selbst nach und nach, obwohl du gesund bist. Du wirst hinabgezogen in dieses Schicksal, in diese Isolation. Du wirst auch zu einer Gefangenen dieser Krankheit.«
»Aber Mami, du hast vorhin gesagt, dass dir kein Mensch je so nah sein wird wie Papi, aber ich bin doch auch noch da …«
»Es gibt kein Leben mehr für mich außerhalb der vier Wände zu Hause und außer diesem Menschen, der mich nicht mehr erkennt und den ich nicht mehr kenne, und ich ertrage diese Erniedrigung, diese Freiheitsberaubung, die Schlaflosigkeit und Selbstlosigkeit nicht mehr. Ich bin dazu nicht gemacht.«
»Mami …«
»Ja, ich ertrage ihn nicht mehr. Ich hasse ihn dafür, dass er unser Leben zerstört. Obwohl ich weiß, dass er nichts dafür kann, nehme ich es ihm übel. Und manchmal wünsche ich mir, er wäre tot und ließe mir wenigstens den kleinen Rest von meinem eigenen Leben übrig.«
Endlich machte sie eine
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