Tief im Herzen: Roman (German Edition)
inzwischen der Welpe verrückt. Er lief auf und ab und kläffte laut. Um ihn zu beruhigen, nahm Seth ein Stück von dem Hähnchen, das er hatte stibitzen wollen, und warf es auf den Boden. Während Foolish gierig fraß, sah Seth verblüfft zu, wie die drei Männer sich dem Anlegesteg näherten.
Er war nach unten gekommen, um seinen leeren Magen zu füllen. Er war daran gewöhnt, sich leise zu bewegen. In der Küche hatte er sich mit Hähnchen vollgestopft und den Männern zugehört.
Sie benahmen sich so, als wollten sie ihn wirklich hierbehalten. Sie redeten so, als wäre es eine beschlossene Sache. Zumindest im Augenblick, dachte Seth, bis sie ihr Versprechen vergessen oder das Interesse verloren hatten.
Er wußte, daß Versprechen rein gar nichts bedeuteten. Ausgenommen die von Ray. Er hatte an Ray geglaubt. Aber dann war er einfach gestorben und hatte alles kaputtgemacht. Und doch war jede Nacht, die er in diesem Haus verbrachte, in der er auf sauberen Laken schlief, der Welpe neben ihm im Bett, ein Sieg. Wenn sie eines Tages beschlossen, ihn auf die Straße zu setzen, würde er durchbrennen.
Denn er würde lieber sterben, bevor er dahin zurückkehrte, wo er früher gelebt hatte.
Der Welpe schnüffelte an der Tür, angelockt von dem Lachen, dem Gebell und den Rufen. Seth gab ihm noch etwas von dem Hähnchen, um ihn abzulenken. Er wollte auch rausgehen, über den Rasen laufen und mitlachen, sich
an dem Spaß beteiligen … zur Familie gehören. Aber er wußte, daß er nicht willkommen sein würde. Sie würden sofort aufhören und ihm sagen, er solle wieder ins Bett gehen. O Gott, wie gern wollte er bleiben. Er wollte einfach nur hier sein. Seth drückte das Gesicht an die Fliegentür und wünschte sich von ganzem Herzen, dazuzugehören.
Als er Ethans lachend hervorgestoßene Schimpftirade hörte, das laute Platschen, das darauf folgte, und das Gebrüll fröhlicher Männerstimmen, grinste er. Und so blieb er dort stehen und lächelte, während gleichzeitig eine Träne über seine Wange lief.
5. Kapitel
Anna fuhr früh zur Arbeit. Vermutlich würde ihre Supervisorin bereits an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie konnte sich stets darauf verlassen, daß Marilou Johnston dort zu finden oder zumindest in Hörweite oder Reichweite war.
Marilou war eine Frau, die Anna bewunderte und respektierte. Wenn sie Rat brauchte, gab es niemanden, dessen Meinung ihr mehr bedeutete.
Als sie den Kopf durch die offenstehende Tür des Büros steckte, lächelte Anna. Wie erwartet, hatte Marilou sich hinter Akten und Papieren verschanzt, die sich auf ihrem vollen Schreibtisch stapelten. Sie war klein, gerade mal einsfünfzig. Ihr Haar trug sie sowohl aus praktischen als auch aus modischen Gründen kurz geschnitten. Sie hatte ein glattes Gesicht wie aus poliertem Ebenholz, und ihre Miene blieb selbst in der schlimmsten Krisensituation beherrscht. Für Anna war Marilou der ruhige Mittelpunkt in ihrer Behörde. Es war ihr schleierhaft, wie diese Frau es schaffte, ruhig zu bleiben, da zu ihrem Leben außer einem kräftezehrenden Beruf auch zwei Jungen im Teenageralter gehörten und ihr Haus ständig voller Leute war. Anna wünschte sich, wie Marilou Johnston zu sein.
»Hast du eine Minute Zeit?«
»Na klar.« Marilou sprach schnell und lebhaft, mit dem teils schleppenden, teils näselnden Akzent des südlichen Küstengebiets. Mit einer Hand bot sie Anna einen Stuhl an, die andere spielte gleichzeitig mit dem kleinen runden Stecker in ihrem linken Ohr. »Der Quinn-DeLauter-Fall?«
»Auf Anhieb richtig geraten. Gestern haben hier mehrere Faxe vom Anwalt der Quinns auf mich gewartet. Eine Kanzlei in Baltimore.«
»Was hatte dir dieser Anwalt aus Baltimore zu sagen?«
»Im großen und ganzen geht es darum, daß sie die Vormundschaft anstreben. Er will einen Antrag bei Gericht einreichen. Es ist ihnen sehr ernst damit, Seth DeLauter bei sich aufzunehmen.«
»Und?«
»Es ist eine sehr ungewöhnliche Situation, Marilou. Bisher habe ich leider nur mit einem der drei Brüder gesprochen, nämlich dem, der bis vor kurzem noch in Europa gelebt hat.«
»Cameron? Und dein Eindruck?«
»Beeindruckend ist er auf jeden Fall.« Und da Marilou auch ihre Freundin war, grinste Anna und verdrehte die Augen. »Eine Augenweide. Ich bin über ihn gestolpert, als er gerade die Stufen an seiner Veranda reparierte. Ich kann nicht behaupten, daß er glücklich aussah, aber entschlossen ist er auf jeden Fall. Er strahlt viel Wut und großen Kummer aus. Was
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