Tief im Herzen: Roman (German Edition)
Er stellte sich vor, daß es im Haus schwach nach Zitrone duften würde. Das Haus von Grace roch immer so.
»Cam hat sie geküßt, auf den Mund.«
Ethan blieb stehen und sah ihm ins Gesicht. »Was?«
»Ein richtiger Schmatzer. Sie hat gelacht. Es sollte wohl ein Scherz sein.«
»Ein Scherz, klar.« Er zuckte die Achseln und ignorierte den harten Druck in seinem Magen. Es ging ihn nichts an, wen Grace küßte. Das war ihre Sache. Und doch biß er die Zähne zusammen, als Cam mit nassem Haar auf die hintere Veranda trat.
»Wie sieht’s an der Krebsfront aus?«
»Wird schon gehen«, sagte Ethan kurz angebunden.
Cam hob die Brauen. »Was ist los, ist einer von ihnen frühzeitig aus der Falle gekrochen und hat dich in den Hintern gezwickt?«
»Ich will unter die Dusche und dann ein Bier.« Ethan ging an ihm vorbei ins Haus.
»Eine Frau kommt morgen zum Abendessen.«
Ethan blieb stehen und drehte sich um. »Wer ist sie?« »Anna Spinelli.«
»Scheiße.« Mehr sagte er nicht, bevor er verschwand.
»Warum kommt sie? Was will sie?« Seths Stimme verriet Panik.
»Sie kommt, weil ich sie zum Krebsessen eingeladen habe.« Cam steckte seine Daumen in die Hosentaschen und wippte auf den Fersen. Warum war immer er es, der sich mit diesem bleichen Gesicht, dieser Angst befassen mußte? »Ich denke, sie will sehen, ob wir hier noch was anderes machen, als uns nur zu kratzen und zu streiten. Darauf können wir vermutlich für einen Abend verzichten. Und wir dürfen nicht vergessen, die Klobrille runterzuklappen. Frauen können es nicht ausstehen, wenn man das nicht tut. Sie machen eine soziale und politische Frage daraus. Stell dir das mal vor.«
Seths Gesicht entspannte sich. »Also kommt sie bloß, um zu sehen, ob wir schlampig sind oder nicht. Grace hat überall saubergemacht, und du kochst nicht, also wird es schon hinhauen.«
»Hauptsache, du paßt auf dein loses Mundwerk auf.«
»Deins ist genauso lose.«
»Ja, aber du bist jünger als ich. Und ich habe nicht vor, dich in ihrer Anwesenheit zu bitten, mir mal die Scheißkartoffeln rüberzureichen.«
Seth lachte auf, und seine verkrampften Schultern lockerten sich. »Wirst du ihr von der Scheiße heute in der Schule erzählen?«
Cam atmete tief durch. »Für morgen solltest du ein Ersatzwort für Scheiße finden. Ja, ich werde ihr erzählen, was in der Schule passiert ist. Und ich sage ihr auch, daß Phil, Ethan und ich mit dir hingegangen sind, um die Angelegenheit zu regeln. Das werden wir nämlich morgen tun.«
Seth blinzelte. »Ihr alle? Ihr kommt alle mit?«
»Genau. Wie ich schon sagte – legt man sich mit einem Quinn an, dann legt man sich mit allen Quinns an.«
Es schockierte, ängstigte und entsetzte sie beide, als plötzlich Tränen in Seths Augen schossen. Sofort steckten sie ihre Hände in die Hosentaschen und wandten sich ab.
»Ich muß noch was … erledigen«, sagte Cam unsicher. »Du gehst dir jetzt mal … die Hände waschen oder so. Bald gibt’s Essen.«
Gerade als er den Mut gefaßt hatte, Seth eine Hand auf die Schulter zu legen und etwas zu sagen, das zweifellos dazu geführt hätte, daß sie sich beide wie Trottel vorgekommen wären, stürzte der Junge ins Haus.
Cam preßte die Finger auf seine Augen, massierte seine Schläfen und ließ die Arme dann sinken. »Gott, ich muß wieder Rennen fahren. Da weiß ich genau, was ich zu tun habe.« Er wollte ins Haus gehen, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte nicht hineingehen, wenn soviel Gefühl, soviel Bedürftigkeit in der Luft lag.
Himmel, er wollte seine Freiheit zurückhaben, aufwachen und feststellen, daß dies nur ein Traum gewesen war. Oder besser noch, in einem riesigen, anonymen Hotel in irgendeiner exotischen Stadt aufwachen, neben sich eine heiße, nackte Frau.
Doch als er es sich bildlich vorzustellen versuchte, war es sein eigenes Bett, und die Frau war Anna.
Als Ersatz kein so schlechter Tausch, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Er blickte zu den Fenstern im zweiten Stock, als er das Haus umrundete. Der Kleine rang da oben um seine Fassung. Und ihm ging es hier draußen nicht anders.
Dieser Blick, den der Kleine ihm zugeworfen hatte, bevor sie beide rührselig geworden waren, der war ihm durch und durch gegangen. Er hatte dort Vertrauen und eine mitleiderregende, fast verzweifelte Dankbarkeit gesehen, die ihn zugleich beschämte und ängstigte.
Was zum Kuckuck sollte er damit anfangen? Und wenn sich alles beruhigt hatte und er sein eigenes Leben
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