Tief im Herzen: Roman (German Edition)
verdiente.
Und da war Cam, rauh und zäh, mit diesem boshaften Funkeln in den Augen, die Daumen in die Taschen seiner Jeans gehakt. Ja, genau, dachte Seth. Das machte er fast immer so, wenn er genervt war. Selbst auf dieser groben Skizze wirkte er wie ein Mensch, der schon sehr viel erlebt hatte, aber noch viel mehr erleben wollte.
Zuletzt zeichnete er sich selbst und versuchte sich dabei mit den Augen der anderen zu sehen. Seine Schultern waren zu schmal und zu knochig, dachte er ein wenig enttäuscht. Aber es würde nicht immer so bleiben. Sein Gesicht war zu hager für seine Augen, doch auch das würde später noch voller werden. Eines Tages würde er größer und stärker sein, er würde nicht mehr aussehen wie ein schwächliches Kind.
Aber er hatte den Kopf hochgehalten, oder? Er hatte vor gar nichts Angst gehabt. Und er sah nicht so aus, als wäre
er nur zufällig auf das Bild geraten. Er sah – fast – so aus, als ob er dazugehörte.
Legst du dich mit einem Quinn an, dann legst du dich mit allen an. So hatte Cam gesagt – und er mußte es ernst gemeint haben. Aber er war kein Quinn, dachte Seth und runzelte die Stirn, als er die Zeichnung in die Höhe hielt, um sie genau zu betrachten. Oder vielleicht doch, er wußte es einfach nicht. Ihm war nicht wichtig gewesen, ob Ray Quinn sein Vater war, wie manche Leute behaupteten. Das einzige, was für ihn zählte, war, daß er ihr entkommen war.
Damals hatte es keine Rolle gespielt, wer sein Vater war. Spielte es immer noch nicht, versicherte er sich schnell. Es war ihm piepegal. Er wollte nur hierbleiben, genau hier. Seit Monaten hatte ihn niemand mehr mit dem Handrücken oder den Fäusten traktiert. Niemand war k.o. von Drogen und lag still da, daß man ihn für tot hielt. Keine speckigen Kerle mit Schweißhänden mehr, die ihn anfassen wollten.
Er wollte nicht mehr daran denken.
Die Krebse zu essen, war ziemlich cool gewesen. Sie hatten sich richtig schön dreckig gemacht, dachte er grinsend. Man mußte sie mit den Händen essen. Und die Sozialarbeiterin hatte auch nicht etepetete getan und sich geziert. Sie hatte bloß ihre Jacke ausgezogen und sich die Ärmel aufgekrempelt. Sie schien nicht darauf zu achten, ob er rülpste oder sich am Hintern kratzte. Sie hatte viel gelacht, erinnerte er sich. Er war es nicht gewöhnt, daß Frauen lachten, wenn sie nicht gerade Koks genommen hatten, und das war eine ganz andere Art von Lachen. Spinellis Lachen war nicht wild, hart und verzweifelt. Es war leise und, na ja, weich wie Seide, überlegte er.
Und es hatte auch niemand gesagt, er könne keinen Nachschlag bekommen. Mann, er hatte bestimmt hundert dieser häßlichen Viecher vertilgt. Es hatte ihm nicht mal was ausgemacht, von dem Salat zu essen, obwohl er so getan hatte, als fiele es ihm schwer.
Schon lange hatte er dieses nagende, flaue Gefühl im Bauch nicht mehr gespürt, das von verzweifeltem Hunger kam, so lange, daß er es fast hätte vergessen können. Aber er hatte es nicht vergessen. Er hatte gar nichts vergessen.
Er hatte sich Sorgen gemacht, daß die Sozialarbeiterin ihn wieder dorthin zurückbringen wollte, doch sie schien ganz in Ordnung zu sein. Außerdem hatte er gesehen, wie sie Foolish heimlich kleine Brocken von dem Krebsfleisch und Brot zugesteckt hatte, deshalb konnte sie so übel nicht sein. Dennoch hätte sie ihm besser gefallen, wäre sie Kellnerin gewesen, so wie Grace.
Als es leise an die Tür klopfte, klappte Seth schnell das Skizzenheft zu. Dafür schlug er ein anderes auf, in das er bereits die ersten zehn Wörter seines Aufsatzes gekritzelt hatte.
»Ja?«
Anna steckte den Kopf herein. »Hallo. Darf ich kurz reinkommen?«
Es war komisch, gefragt zu werden, und er überlegte, ob sie wohl einfach kehrtmachen und wieder gehen würde, wenn er nein sagte. Aber er zuckte die Achseln. »Sicher.«
»Ich muß bald fahren«, begann sie und sah sich flüchtig im Zimmer um. Sie erblickte ein Doppelbett, ungeschickt gemacht, eine stabile Kommode und einen Schreibtisch, ein Wandregal, auf dem einige wenige Bücher standen, einen tragbaren Stereorekorder, der wie neu aussah sowie ein altes Fernglas. Vor den Fenstern waren weiße Rollos angebracht, und die Wände waren blaßgrün gestrichen.
Hier fehlte der Krimskram, dachte sie, der zu einem Jungen gehörte, wie altes Spielzeug und Poster an den Wänden. Aber der Welpe, der in einer Ecke schnarchte, war schon mal ein guter Anfang.
»Wie hübsch.« Sie ging langsam zum Fenster
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