Tief im Herzen: Roman (German Edition)
sich wieder auf. »Sag Foolish für mich gute Nacht.«
Anna schob die Zeichnung in ihre Aktenmappe, als sie nach unten ging. Phillip saß am Klavier und klimperte nachlässig einen Blues. Um diese Fähigkeit beneidete sie ihn. Ihr fehlte das musikalische Talent. Ethan war nirgends zu sehen, und Cam ging unruhig im Wohnzimmer auf und ab.
Diese Szene warf ein bezeichnendes Licht auf die drei Männer. Phillip vertrieb sich auf vornehme Art die Zeit, Ethan ging allein irgendeiner Beschäftigung nach, und Cam reagierte seine überschüssige Energie ab. Und der Junge saß oben in seinem Zimmer, malte seine Bilder und hing seinen Gedanken nach.
Cam schaute auf, und als ihre Blicke sich begegneten, durchfuhr sie ein flammend heißer Strahl.
»Meine Herren, vielen Dank für das wunderbare Essen.«
Phillip stand auf und ergriff ihre Hand. »Wir haben Ihnen zu danken. Es ist lange her, daß eine schöne Frau bei uns zu Gast war. Ich hoffe, Sie kommen mal wieder.«
Oh, der ist aber aalglatt, dachte sie. »Gern. Sagen Sie Ethan, er ist ein Genie im Zubereiten von Krebsen. Gute Nacht, Cam.«
»Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.«
Damit hatte sie gerechnet. »Zunächst folgendes«, sagte sie draußen zu ihm. »Soweit ich sehen kann, ist Seth hier gut aufgehoben. Er wird angemessen beaufsichtigt, ist ordentlich untergebracht und erhält die nötige Unterstützung, was die Schule betrifft. Er könnte durchaus mal neue Schuhe gebrauchen.«
»Schuhe? Was stimmt denn nicht mit seinen Schuhen?«
»Dennoch«, fuhr sie fort und wandte sich ihm zu, als sie ihren Wagen erreichten, »müssen Sie sich alle erst noch an die neue Situation gewöhnen. Es steht fest, daß Seth ein sehr verstörtes Kind ist. Ich vermute, er wurde mißhandelt und sexuell mißbraucht.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht«, sagte Cam kurz angebunden. »Hier wird ihm nichts geschehen.«
»Ich weiß.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Hätte ich in dieser Hinsicht auch nur den geringsten Zweifel, dann wäre er nicht mehr hier. Cam, er braucht therapeutische Hilfe. Sie alle brauchen sie.«
»Einen Psychologen? Unsinn. Wir brauchen uns nicht bei irgendeinem unterbezahlten Bezirkspsycho auszuheulen.«
»Viele unterbezahlte Bezirkspsychos leisten hervorragende Arbeit«, erklärte sie trocken. »Da ich selbst Psychologie studiert habe, könnte man auch mich als unterbezahlten Bezirkspsycho bezeichnen, und ich leiste gute Arbeit.«
»Fein. Sie sprechen mit ihm, Sie sprechen mit mir. Wir haben uns bereits helfen lassen.«
»Stellen Sie sich doch nicht stur.« Sie sprach bewußt mit sanfter Stimme zu ihm, weil sie wußte, wie schnell er ärgerlich werden konnte.
»Ich stelle mich nicht stur. Ich habe von Anfang an mit Ihnen kooperiert.«
Mehr oder weniger, dachte sie, mußte jedoch fairerweise zugeben, daß es mehr war, als sie erwartet hatte. »Sie haben hier einen soliden Anfang gemacht, aber ein Profi
würde Ihnen allen helfen, die Probleme an der Wurzel anzupacken.«
»Wir haben keine Probleme.«
Mit solch erbittertem Widerstand gegen diesen wichtigen nächsten Schritt hatte sie nicht gerechnet. »Aber sicher haben Sie welche. Seth fürchtet sich vor Berührungen.«
»Er hat keine Angst, sich von Grace berühren zu lassen.«
»Grace?« Anna schürzte nachdenklich die Lippen. »Grace Monroe, deren Name auf Ihrer Liste steht?«
»Ja, sie macht jetzt hier den Haushalt, und der Kleine ist verrückt nach ihr. Vielleicht sogar ein bißchen verknallt.«
»Das ist gut, ein gutes Zeichen. Aber es ist bloß ein Anfang. Wenn ein Kind mißhandelt wird, hinterläßt das Narben.«
Warum sprachen sie eigentlich über diese Dinge? dachte er ungeduldig. Warum redeten sie über Seelenklempner und rissen alte Wunden auf, wenn er doch nur ein paar Minuten lang locker mit ihr flirten wollte?
»Mein alter Herr hat mich mit schöner Regelmäßigkeit zusammengeschlagen. Na und? Ich hab’s überlebt.« Er haßte es, sich zu erinnern, haßte es, im Schatten des Hauses zu stehen, das seine Zuflucht geworden war, und sich zu erinnern. »Die Mutter des Kleinen hat ihn herumgestoßen. Tja, sie wird keine weitere Gelegenheit bekommen, es noch einmal zu tun. Dieses Kapitel ist abgeschlossen.«
»Es ist niemals abgeschlossen«, sagte Anna geduldig. »Jedes neue Kapitel, das Sie aufschlagen, hat etwas mit dem vorhergehenden zu tun. Ich empfehle Ihnen, sich professionelle Hilfe zu suchen, und ich werde es auch in meinem Bericht empfehlen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang
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