Tief im Herzen: Roman (German Edition)
beschwerte sich Phillip, während Seth gleichzeitig murmelte, daß er keine blöden neuen Schuhe brauche.
»Ethan hat unseren ersten Auftrag an Land gezogen, und ich habe die Scheune aufgetan. Nun kannst du dich um den Papierkram kümmern. Und du kriegst die blöden Schuhe«, drohte er Seth.
»Ich weiß gar nicht, warum du hier den Boß spielst.«
Cam lachte grimmig auf. »Ich auch nicht.«
Das Claremont-Gebäude war im Grunde keine Scheune, konnte aber von der Größe her als solche gelten. Mitte des 18. Jahrhunderts war dort ein Tabaklager untergebracht worden. Nach dem Unabhängigkeitskrieg hatten die britischen Schiffe mit ihrem breiten Warensortiment St. Chris nicht mehr angelaufen, so daß die florierenden Geschäfte bald der Vergangenheit angehörten.
Der Aufschwung am Ende des 19. Jahrhunderts war direkt von der Bucht ausgegangen. Mit den verbesserten Konservierungs- und Verpackungsmethoden war ein Markt für Austern entstanden, und in St. Chris kehrte neuer Wohlstand ein. Im alten Tabaklager wurden die Austern verpackt.
Nachdem die Austernbänke nicht mehr genug hergaben, wurde das Gebäude zu einem großen Lagerschuppen umgebaut. Im Laufe der nächsten fünfzig Jahre hatte es dann fast die Hälfte der Zeit leergestanden.
Von außen machte das Gebäude nicht viel her: von Sonne und Regen verschossener Backstein, daumengroße Löcher im Mörtel, ein durchhängendes altes Dach, das dringend neu gedeckt werden mußte. Die wenigen Fenster, die es zu gab, waren klein und schäbig, die meisten Scheiben zerbrochen.
»Oh, sieht ja vielversprechend aus.« Angewidert parkte Phillip den Wagen seitlich des Gebäudes.
»Wir brauchen Raum«, rief Cam ihm ins Gedächtnis. »Schön muß es nicht sein.«
»Gott sei Dank, denn das hier läßt sich wirklich nicht als schön bezeichnen.«
Ethan, dessen Interesse geweckt war, stieg aus. Er ging zum nächstliegenden Fenster und benutzte das Halstuch, das in seiner Gesäßtasche steckte, um den Schmutz abzuwischen, so daß er hineinsehen konnte. »Es ist kein schlechtes Haus. Es hat hinten eine Laderampe und einen Anlegesteg. Wir müssen nur ein bißchen Arbeit reinstecken.«
»Ein bißchen?« Phillip spähte über seine Schulter hinweg ebenfalls hinein. »Der Fußboden ist verfault. Da muß es nur so wimmeln vor Ungeziefer, vermutlich Termiten und Nagetiere.«
»Wäre vielleicht nicht schlecht, das Claremont gegenüber zu erwähnen«, bemerkte Ethan, »um die Miete zu drücken.« Als er Glas splittern hörte, sah er, daß Cam mit dem Ellbogen eine bereits gesprungene Scheibe eingedrückt hatte. »Wir gehen wohl besser rein.«
»Einbruch.« Phillip schüttelte nur den Kopf. »Ist ja ein guter Anfang.«
Cam knackte das jämmerliche Fensterschloß und schob es hoch. »Es war schon zerbrochen. Wartet hier auf mich.« Er kletterte hinein und verschwand.
»Cool«, sagte Seth, und ehe jemand ein Wort sagen konnte, folgte er Cam auf demselben Weg.
»Wir bieten ihm ja ein schönes Beispiel.« Phillip fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wünschte von ganzem Herzen, er hätte nie das Rauchen aufgegeben.
»Na ja, sieh es mal so. Du hättest die Schlösser aufbrechen können. Aber du hast es nicht getan.«
»Richtig. Hör zu, Ethan, wir müssen darüber in Ruhe nachdenken. Es spricht doch nichts dagegen, daß ihr – daß wir – das erste Boot bei dir bauen. Sobald wir ein Gebäude mieten und eine Steuernummer beantragen, haben wir uns festgelegt.«
»Was kann denn schlimmstenfalls passieren? Wir verschwenden Zeit und Geld. Ich denke, von beidem habe ich genug.« Er hörte Cam und Seth lachen. »Und vielleicht bringt es uns ja auch Spaß.«
Er ging zur Vordertür, in der Gewißheit, daß Phillip zwar murren, ihm jedoch folgen würde.
»Ich habe eine Ratte gesehen«, sagte Seth fröhlich, als Cam die Tür aufschob. »Die war riesig.«
»Ratten.« Phillip musterte den schwach beleuchteten Raum grimmig, bevor er eintrat. »Entzückend.«
»Wir müssen uns ein paar Katzen besorgen«, beschloß Ethan, »die sind hinterhältiger als Kater.«
Er blickte zu der hohen Decke hinauf. Im offenen Gebälk waren deutlich Wasserschäden zu sehen. Es gab auch einen Heuboden, aber die Stufen, die hinaufführten, waren zerbrochen. Fäulnis und höchstwahrscheinlich Ratten hatten den Holzboden zerfressen. Es würde einiges an Arbeit kosten, hier sauberzumachen und auszubessern, aber Platz war im Überfluß vorhanden. Er überließ sich seinen Tagträumen: der Holzgeruch unter
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