Tief im Herzen: Roman (German Edition)
aufhören wollte. Als sie fertig waren, wankten sie zu ihrem Wagen und fuhren weg. Sie ließen uns einfach dort liegen. Meine Mutter war bewußtlos. Er hatte sie übel zusammengeschlagen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Später sagte man mir, ich hätte einen Schock gehabt. Meine Erinnerung setzte erst wieder im Krankenhaus ein. Meine Mutter erlangte das Bewußtsein nicht wieder. Sie lag zwei Tage im Koma, dann starb sie.«
»Anna, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Ich habe es Ihnen nicht erzählt, um Ihr Mitgefühl zu wecken«, sagte sie. »Sie war siebenundzwanzig, ein Jahr jünger, als ich es jetzt bin. All das ist schon sehr lange her, aber man vergißt nie. Und ich erinnere mich noch an alles, was in jener Nacht geschah, an alles, was danach kam, als ich bei meinen Großeltern lebte. Ich tat, was in meinen Kräften stand, um ihnen und mir wehzutun. Das war meine Art, mit der Tragödie fertigzuwerden. Ich weigerte mich, eine Therapie zu machen«, sagte sie kühl. »Ich wollte nicht mit irgend so einem verbissenen, vertrockneten Seelenklempner reden. Statt dessen fing ich Streit an, suchte Ärger und fand ihn. Ich hatte wahllosen Sex, nahm Drogen, brannte durch und lief Sturm gegen alle, die mir helfen wollten.«
Anna nahm die Jacke, die sie vorhin ausgezogen hatte, und faltete sie jetzt ordentlich zusammen. »Ich haßte jeden, und mich selbst am meisten. Es war mein Wunsch gewesen, nach Philadelphia zu fahren, wegen mir hatten wir die Reise gemacht. Ohne mich wäre das alles nicht geschehen.«
»Nein.« Er wollte sie berühren, wagte es jedoch nicht.
Nicht, weil sie so zerbrechlich schien, das war es nicht. Sie wirkte unbeschreiblich stark. »Nein, Sie tragen an all dem keine Schuld.«
»Ich fühlte mich aber schuldig. Und deshalb schlug ich auf jeden ein, mit dem ich in Berührung kam.«
»Manchmal kann man nicht anders«, murmelte er. »Zurückschlagen, Amok laufen, bis man alles rausgelassen hat.«
»Manchmal gibt es aber gar keinen Grund, um sich zu schlagen, und keinen Ort, wohin man gehen könnte. Drei Jahre lang benutzte ich die Ereignisse in jener Nacht als Vorwand, um zu tun, was immer ich wollte. Und das, was ich wollte, war falsch. Ich hielt mich für ungeheuer ausgebufft, als ich im Jugendknast landete. Aber meine Betreuerin war ausgebuffter. Sie setzte mich unter Druck, forderte mich heraus und ließ nicht locker. Und weil sie sich weigerte, mich aufzugeben, erreichte sie ihr Ziel schließlich. Und weil auch meine Großeltern sich weigerten, mich aufzugeben, schaffte ich es.«
Behutsam legte sie die Jacke über die Armlehne des Sofas. »Es hätte anders kommen können. Ich hätte eine von vielen verkrachten Existenzen werden können.«
Er fand es erstaunlich, daß sie diese grausame Erfahrung in Stärke umgewandelt hatte, daß sie einen Beruf gewählt hatte, der sie tagtäglich daran erinnern mußte, was ihr Leben beinahe zerstört hätte. »Und Sie beschlossen, anderen zu helfen. Die Art Arbeit zu leisten, die Sie auf den richtigen Weg gebracht hatte.«
»Ich wußte, daß ich helfen konnte. Und ich hatte eine Schuld abzutragen, so wie Sie das Gefühl haben, daß Sie in der Schuld Ihres Vaters stehen. Ich habe überlebt«, sagte sie und blickte ihm wieder offen in die Augen, »aber zu überleben ist nicht genug. Es war nicht genug für mich, es ist nicht genug für Sie, und es wird für Seth nicht genug sein.«
»Eins nach dem andern«, murmelte er. »Ich will wissen, ob sie die Mistkerle gefaßt haben.«
»Nein.« Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, das zu
akzeptieren. »Es hat Wochen gedauert, bis ich zusammenhängend darüber reden und eine Aussage machen konnte. Man hat die beiden nie gefaßt. Was meine Arbeit angeht, so glaube ich, daß wir keine bessere Alternative anzubieten haben.«
Er streckte die Hand nach ihr aus, zögerte und steckte sie dann in seine Tasche. »Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe, wenn ich Dinge gesagt habe, die Sie an dieses schlimme Erlebnis erinnert haben.«
»Es ist immer da. Aber ich komme damit zurecht und kann es über lange Phasen beiseiteschieben. Doch vergessen werde ich es nie.«
»Haben Sie eine Therapie gemacht?«
»Am Schluß, ja. Ich …« Sie brach ab und seufzte. »Also schön, ich behaupte nicht, daß Therapien Wunder bewirken, Cam. Ich will nur sagen, daß sie hilfreich sein, einen Heilungsprozeß einleiten können. Ich brauchte sie, und nachdem ich schließlich bereit war, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen,
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