Tief im Herzen: Roman (German Edition)
ruhig und gelassen an. »Es ist lebenswichtig für mich.«
Und er verstand. Und weil er es verstand, empfand er sowohl ohnmächtige Wut als auch hilfloses Mitgefühl. »Mein Gott, Anna. Wann?«
»Als ich zwölf war.«
»Es tut mir so leid.« Ihr Geständnis berührte ihn tief. »Es tut mir leid«, wiederholte er. »Sie brauchen nicht darüber zu reden.«
»In diesem Punkt gehen unsere Meinungen auseinander. Darüber zu reden, hat mich schließlich gerettet.« Und er würde zuhören, dachte sie, und sie verstehen. »Meine Mutter und ich besuchten Philadelphia. Ich wollte die Liberty Bell sehen, weil wir in der Schule den Unabhängigkeitskrieg durchnahmen. Unser Wagen war eine alte Schrottmühle. Wir fuhren also hin und besichtigten alles. Dann aßen wir ein Eis und kauften Souvenirs.«
»Anna …«
Ihr Kopf schnellte herum. »Haben Sie Angst, es zu hören?«
»Schon möglich.« Ja, vielleicht hatte er Angst davor, es zu hören, Angst davor, was sich dadurch zwischen ihnen ändern würde. Wieder mal ein Glücksspiel, dachte er. Dann sah er sie an und wartete geduldig. Er begriff, daß er es wissen mußte. »Erzählen Sie weiter.«
Sie holte Tassen aus dem Schrank. »Wir waren nur zu zweit. Immer schon gewesen. Sie war mit sechzehn Jahren schwanger geworden und wollte nie verraten, wer mein Vater war. Ihr Leben wurde durch mich ungeheuer kompliziert, sie mußte viele Demütigungen ertragen und Opfer bringen. Meine Großeltern sind sehr religiös, sehr altmodisch«, Anna lachte leise, »sehr italienisch. Sie verstießen meine Mutter zwar nicht, aber ich hatte das Gefühl, daß es ihr Unbehagen bereitete, von ihnen ständig bevormundet zu werden. Daher wohnten wir in einem Apartment, das nicht einmal halb so groß war wie dieses hier.«
Sie brachte die Kanne zum Tisch und goß den aromatischen, dunklen Kaffee ein. »Es war April, ein Samstag. Sie hatte sich freigenommen, damit wir wegfahren konnten. Es war ein wunderbarer Tag, und wir blieben länger als geplant, weil wir soviel Spaß hatten. Auf der Heimfahrt schlief ich immer wieder ein, und sie muß dann irgendwo
falsch abgebogen sein. Wir hatten uns verfahren, aber sie machte sich darüber nur lustig. Plötzlich blieb der Wagen stehen. Rauch quoll aus der Motorhaube. Sie fuhr rechts ran, wir stiegen aus und fingen an zu kichern. Was für ein Chaos, was für eine blöde Situation.«
Er wußte, was jetzt kam. »Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen.«
»Nein, es geht mir gut. Sie dachte, der Kühler hätte zu wenig Wasser«, fuhr Anna fort. Sie erinnerte sich, wie warm es gewesen war, wie still, und wie der Mond sich immer wieder hinter Wolken versteckt hatte. »Wir wollten zur nächsten Ortschaft trampen und dort um Hilfe bitten. Dann kam ein Auto und hielt an. Zwei Männer saßen darin, und einer von ihnen lehnte sich aus dem Fenster und fragte uns, ob wir Probleme hätten.«
Sie nahm ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck. Ihre Hände zitterten jetzt nicht mehr. Sie war imstande, ihre Geschichte zu erzählen und noch einmal zu durchleben. »Ich weiß noch, wie sie meine Hand drückte, so fest umklammerte, daß es wehtat. Später begriff ich, daß sie Angst gehabt hatte. Die Männer waren betrunken. Meine Mutter erklärte, sie sei auf dem Weg zum Haus ihres Bruders, es sei alles bestens, aber die beiden stiegen aus. Sie schob mich hinter sich. Als der erste sie packte, schrie sie, ich solle weglaufen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht rühren. Der Mann lachte und begrapschte sie, und sie wehrte sich. Und als er sie von der Straße zerrte und auf den Boden drückte, lief ich zu ihnen und versuchte ihn wegzuziehen. Aber das konnte ich natürlich nicht schaffen. Der andere Mann riß mich zurück und zerfetzte mein Shirt.«
Eine wehrlose Frau und ein hilfloses Kind. Cam ballte die Hände zu Fäusten, als Wut in ihm aufstieg. Er wünschte sich, er hätte ihnen in jener Nacht helfen können, es ihren Peinigern heimzahlen können.
»Die ganze Zeit lachte er«, sagte Anna leise. »Für einen Moment sah ich deutlich sein Gesicht. Ich hörte meine
Mutter immer wieder schreien, sie flehte sie an, mir nichts zu tun. Er vergewaltigte sie, ich konnte hören, wie er sie vergewaltigte, aber sie bat ihn immer wieder, mich in Ruhe zu lassen. Ich konnte hören, wie der Mann sie schlug und sie anbrüllte, sie solle den Mund halten. Es kam mir alles so unwirklich vor. Als er mich dann vergewaltigte, war es wie ein furchtbarer Alptraum, der einfach nicht
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