Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Lachanfall. Noch während er lachte, tat er einen Schritt auf seinen Sohn zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Nicht mit voller Kraft, aber
auch nicht sanft. Der Schlag reichte, um den Sohn gegen die Küchenanrichte zu schleudern, wo er sich schmerzhaft den unteren Rücken stieß.
Der Vater lachte noch lauter, prostete ihm zu und trank von dem Bier. »Dann versuch es doch, du kleine Schwuchtel. Darauf bin ich mal gespannt. Ich hoffe, du kannst das Echo vertragen.«
Er trat dem am Boden hockenden Jungen kräftig in den Hintern, so dass er zum zweiten Mal in der Nudelmatsche landete.
»Und jetzt mach die Sauerei weg, wo du schon mal da unten bist.«
Heiße Wut kochte in dem Jungen hoch, drohte ihn zu verzehren. All seine Kraft musste er aufwenden, um sich zu beruhigen. Das Etwas in seinem Inneren war nahezu entfesselt, drängte darauf zu töten. Doch der Zeitpunkt war nicht ideal. Körperlich, das wusste der Junge, war er dem Vater unterlegen, und er würde selbst sterben, wenn er ihn in seinem jetzigen Zustand angriff.
Aber der Zustand des Vaters war auch sein Vorteil. Denn immer, wenn er derart übel drauf war, trank er in einem kurzen Zeitraum eine Unmenge Alkohol. Dann würde es so sein wie immer. Nach dem Abendessen würde sich der Vater vor den Fernseher setzen, ein Bier nach dem anderen trinken und immer besoffener werden. Zwischendurch würde er seine Frau vergewaltigen und schlagen, und vielleicht, wenn er dazu noch in der Lage wäre, seinen Sohn quälen. Aber dann, irgendwann am späten Abend, vielleicht erst nach Mitternacht, würde er in seinem Sessel vor dem Fernseher einschlafen.
Erst dann war der richtige Zeitpunkt gekommen.
Also riss der Junge sich zusammen, biss sich auf die Zunge,
bis er Blut schmeckte, und machte sich mit dem Putzlappen an die Arbeit.
Die Wohnungstür ging. Seine Mutter kehrte zurück. Sofort roch es in der Wohnung nach den Fritten, die in altem Fett frittiert worden waren.
Die Mutter sah sofort, was vorgefallen war.
Sie stellte das Essen auf dem Tisch ab und half dann ihrem Sohn bei der Arbeit. Der Vater sagte nichts dazu. Er machte sich über den Fraß her, stand schließlich auf, nahm zwei Flaschen Bier mit und verschwand ins Wohnzimmer.
Mutter und Sohn waren fast fertig mit der Putzarbeit. Auf allen vieren hockend steckten sie die Köpfe zusammen.
»Alles wird gut werden«, flüsterte die Mutter.
Der Sohn sah sie an.
Glaubte sie wirklich noch daran?
»Erst, wenn er tot ist!«, sagte er leise.
Wieder dieses Entsetzen im Blick seiner Mutter. Sie hielt mit dem Putzen inne und starrte ihren Sohn an.
»Das darfst du nicht sagen, nicht einmal denken, hörst du! Du darfst nicht so werden wie er.«
»Aber sonst wird er dich oder mich irgendwann töten, verstehst du das denn nicht!«
»Nein, das wird er nicht. Gott wird uns beschützen.«
In den letzten Monaten hatte ihr christliches Gefasel immer mehr zugenommen. Gebetet hatte sie schon immer regelmäßig, aber seit einiger Zeit schien sie sich immer mehr in diese religiöse Welt zu flüchten, die ihr Schutz zu gewähren versprach.
Der Junge wusste, dass das ein Trugschluss war. Gäbe es wirklich einen Gott, dann hätte dieser schon längst einen Schlussstrich unter diese Quälereien gezogen. Kein Gott
konnte sich doch so etwas lange anschauen. Nein, niemand würde ihnen helfen. Niemand. Der Junge schwieg und erledigte mit seiner Mutter die Arbeit. Danach schickte sie ihn auf sein Zimmer. Dort sollte er bleiben, ganz egal, was er auch hören würde.
Später hörte er dann, was er an solchen Abenden immer hörte. Geschrei, Poltern, Schläge, Stöhnen, Geschrei, Jammern, Flehen, Bitten.
Und die ganze Zeit über wartete er darauf, dass der Vater auch noch zu ihm kommen würde. Doch das tat er nicht. Irgendwann zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht wurde es still in der Wohnung. Bis auf das Dröhnen des Fernsehers.
Der Junge wurde zunehmend ruhiger. Während er wartete, spürte er eine Veränderung in sich vorgehen. Hatte er bisher noch das Gefühl gehabt, das kraftvolle Etwas in seinem Inneren und er selbst seien zwei verschiedene Persönlichkeiten gewesen, so war er sich jetzt sicher, dass eine letzte Verschmelzung stattgefunden hatte. Die immense Kraft und der Wille, Böses zu tun, waren immer da gewesen, doch nun war er böse und nicht nur von Bösem besessen. Und es fühlte sich großartig an. Darin konnte er ruhen und mit großem Vertrauen darauf seine Aufgabe beginnen.
Der Junge legte sich auf
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