Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Von denen konnte Anouschka keine Hilfe erwarten, auch nicht von dem Schaffner, der in der geöffneten Tür erschien, irgendwas brüllte, den Zug aber nicht verließ.
Anouschka lief noch ein paar Meter, um eine möglichst große Entfernung zwischen sich, den Zug und die anderen Menschen zu bringen. Karel Murow folgte ihr in aufreizender Lässigkeit. Die ganze Zeit über lächelte er.
Schließlich konnte Anou nicht mehr. Ihr Atem ging rasselnd, sie presste sich eine Hand an den Brustkorb, weil
dort wilder Schmerz pochte. Keinen Schritt würde sie noch laufen können.
Hier war Endstation!
Sie blieb stehen und drehte sich um. Mit der rechten Hand holte sie ihre Dienstwaffe aus dem Futteral und entsicherte sie mit dem Daumen. Am langen Arm ließ sie die Mündung auf den Boden gerichtet. Noch zitterte ihre Hand viel zu stark.
In ihr veränderte sich schlagartig etwas. Die Welt um sie herum verschwand, der Zug, die Menschen, alles rückte in weite Ferne. Hier und jetzt waren nur noch sie und Karel Murow. Die Welt war nun ausschließlich für sie da. Es war beinahe so, als befänden sie sich erneut in seinem Reich tief im Wald und unter der Erde.
Murow war stehen geblieben. Drei Meter trennten sie voneinander. Er lächelte.
»Du hast es gewusst, oder?«
»Was gewusst?«
Anou wunderte sich, wie fest und kalt ihre Stimme klang. War das überhaupt ihre Stimme, oder gab es da jemanden in ihrem Körper, der die Regie übernommen hatte?
»Dass du mir nicht entkommen kannst. Wir sind für immer aneinandergebunden.« Er machte einen Schritt auf sie zu und zog das Messer aus der Tasche.
Anous Blick fiel auf die Klinge, an der getrocknetes Blut klebte. Das Blut seiner Mutter.
Sie hob die Waffe und zielte auf Murow. Der zuckte nicht einmal zurück.
»Damit wirst du es nicht zu Ende bringen, nicht wahr?«, sagte er, und seine Stimme klang sanft und betörend.
Plötzlich war das Zittern verschwunden. Ihr Herz raste zwar noch wie wild, der Rest des Körpers aber wurde von
einer unheimlichen Ruhe gepackt. Von einer kaltblütigen Ruhe.
»Du bist schön«, sagte Anou, »aber du gehörst nicht auf diese Welt.«
Dann drückte sie ab.
In ihrer eigenen, entrückten Zeit sah sie das Projektil durch die Luft rasen und ein Loch in Murows Stirn reißen. Sie sah einen Ausdruck in seine Augen treten, der sich am besten mit Unverständnis beschreiben ließ. Noch in dem winzigen Augenblick, da sein Kopf zerbarst und jedes Denken und Sein für alle Zeit gestoppt wurde, wollte und konnte er nicht verstehen, was sie ihm antat. Neben diesem Unverständnis blitzte aber noch etwas anderes auf, etwas, das Anouschka lieber nicht gesehen hätte. Große, bittere Enttäuschung trübte seine Augen, vielleicht über das Leben, das er hatte führen müssen, vielleicht aber auch über sie. Es war ein Ausdruck, der sich tief und auf ewig in Anouschkas Seele einbrannte. Noch im Tod hinterließ Karel Murow Schmerzen, so wie sein Leben ein einziger langer Schmerz gewesen war, aus dem er niemals hatte entkommen können. Er wurde zurück aufs Gleisbett geschleudert, blieb auf dem Rücken liegen, seine Beine zuckten noch zweimal, dann war Schluss.
Anouschka Rossberg ließ die Waffe fallen und sackte zusammen. Sie nahm eine große Stille wahr, die dem lauten Knall des Schusses folgte, und mit dieser Stille schien die Welt in ihrer Bewegung zu verharren. Zeit allerdings verrann, ob schnell oder langsam konnte sie nicht sagen, ob viel oder wenig nahm sie nicht wahr, doch irgendwann spürte sie den harten, spitzen Schotter in ihr Fleisch drücken. Ein Gefühl! Sie fühlte! Tief war die Angst gewesen, Karel Murow könnte all ihre Emotionen mit sich genommen
haben, könnte sie als geistleeres Wesen zurückgelassen haben. Doch dem war nicht so. Anouschka Rossberg war noch da.
Und sie sah Menschen. Aufgeregt, wild gestikulierend, kamen sie auf sie zu. Über ihr ertönte das wilde Flattern von Hubschrauberrotoren. Sirenen. Geschrei. Sie aber sah nur die eine Frau mit kurzem blonden Haar, die über das Gleisbett auf sie zugerannt kam. Tränen liefen in Strömen Anouschkas Gesicht hinab.
War die Welt nicht ein klein wenig heller geworden?
Danksagung
Einen Roman zu schreiben ist eine einsame Sache. Zumindest ist es bei mir so. Ich muss dafür allein sein, den Rest der Welt außen vor lassen, und niemand bekommt das Manuskript zu lesen, bevor ich nicht zufrieden bin damit – und das kann dauern. Trotzdem ist es keine Sache, die man völlig allein macht. Natürlich
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