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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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und färbte einen stetig größer werdenden Bereich des hellen Teppichs rot. Die Bewegungen des Vaters wurden langsamer, die Schreie leiser. Seine Kraft, die Mutter und er immer so brutal zu spüren bekommen hatten, lief aus seinem Körper.
    Nicht eine Sekunde nahm der Junge den Blick vom Todeskampf seines Vaters. Schließlich, nach einer nicht messbaren Zeit, sickerte nur noch sehr wenig Blut aus der Wunde, wo einst der Penis gehangen hatte, und der Vater lag still da. Seine Augen waren aufgerissen, die Atmung hatte aufgehört.
    Er war tot.
    Jetzt konnte das Leben beginnen.
     
    Anouschka rieb sich die schmerzenden Handgelenke. Frisch eingeölt und eingehüllt in die kratzenden, stinkigen Decken, hockte sie auf dem Matratzenlager. Vor einer Viertelstunde hatte er ihr die Handfesseln abgenommen, einfach so, ohne weitere Aufforderung. Dann hatte er sich ihr gegenübergesetzt und zu reden begonnen. Von seiner Kindheit, seinem despotischen Vater und dieser grausamen Tat. Anou hatte zugehört, und auch wenn sich ein Teil ihres Verstandes immerzu mit Flucht und Rache für Tim beschäftigte,
hatte sie es nicht vermeiden können, seiner Erzählung zu folgen.
    Es war wie ein heißer Schwall aus ihm herausgebrochen, so als habe er seit damals darauf gewartet, es jemandem erzählen zu können. Bisher hatte sie ihn ohne Unterbrechung sprechen lassen, hatte gehofft, dass er noch lange Zeit brauchen würde, denn Anou fühlte sich noch nicht stark genug, um es mit ihm aufzunehmen. Er hatte ihr weder zu essen noch zu trinken gegeben, und so musste sie auf ihre Kraftreserven setzen. Ein paar Minuten noch, sie musste ihn noch ein paar Minuten bei der Stange halten.
    »Was geschah dann?«, fragte sie, ließ ihre Stimme dabei so sanft wie möglich klingen.
    Karel Murow saß nackt im Schneidersitz auf dem kalten Boden, keine zwei Meter von ihr entfernt. Zwischen seinen Beinen, wo fehlte, was ihn zum Mann gemacht hätte, lag ein langes Messer. Er hielt die Hände verschränkt, den Kopf gesenkt und wippte vor und zurück. Das Licht der flackernden Kerzen ließ seine Haut golden erscheinen.
    Ansatzlos sprach er weiter, so als hätte er in seinem Inneren gar nicht aufgehört.
     
    »Die ausgeblutete Leiche hing schlaff im Sessel, nur gehalten von den Seilen und Kabelbindern. Ringsherum hatte sich eine gewaltige Blutlache gebildet. So wahnsinnig viel Blut. Die Augen standen weit offen und starrten zum Bildschirm. Selbst tot sah er immer noch fern.
    Ich war so lange vor dem Sessel hocken geblieben, bis ich ganz sicher war. Dann weckte ich Mutter. Ganz sanft, mit Küssen auf Stirn und Wange, flüsterte ihr zu, dass sie nun nie mehr Angst haben müsse, dass sie nun frei sei.
    Sie hat nicht verstanden. In ihrem Mundwinkel klebte
getrocknetes Blut. Ihre Bluse, in der sie eingeschlafen war, war vorn zerrissen, um die Hüfte war sie nackt. In ihren Augen schimmerte noch der Schmerz der Vergewaltigung, und trotzdem mischte sich keine Freude darunter, als ich ihr die gute Nachricht überbrachte.
    Sie lief ins Wohnzimmer, bekreuzigte sich noch unter dem Türrahmen und übergab sich.
    Dann sah sie mich an, als wäre ich das Böse in Person.
    Angst und Abscheu waren in ihrem Blick.
    ›… wie dein Vater … du bist genauso wie er!‹
    Sie stand vor mir, zitternd, bleich, starrte mich an, und ich konnte nicht glauben, was sie da sagte. Wie konnte sie so etwas zu mir sagen?!
    Ich hatte es doch für uns getan, damit wir endlich so leben konnten wie alle anderen Menschen auch, ohne die ständige Angst, ohne diesen grausamen Dämon.
    Für uns!
    Und was tat sie?
    Stellte mich auf eine Stufe mit ihm.«
     
    Wieder hatte er aufgehört zu sprechen, hielt die Augen geschlossen und wippte nun stärker vor und zurück. Seine Bewegungen hatten etwas Hypnotisches, sein durch den Kerzenschein hervorgerufener Schatten huschte riesenhaft an der Wand des Bunkers hin und her.
    Anouschka betrachtete ihn fasziniert und ängstlich zugleich. Soeben war ihr klar geworden, was er nicht wahrhaben wollte. Seine Mutter hatte schon damals recht gehabt. In ihm hauste ein bösartiger Dämon, genauso wie in seinem Vater. Er würde niemals ein normaler Mensch sein, keine Therapie konnte diesem Mann helfen. Die Welt wäre ohne ihn besser dran.

    Er war gefährlich, weil er sein Inneres nicht kontrollieren konnte. Im ständigen Kampf mit sich selbst verlor er dauernd, und selbst wenn seine Mutter ihn damals nicht so gedemütigt hätte, wäre er trotzdem ein zutiefst asozialer Mensch

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