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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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versuchte Nele Ordnung in ihren Kopf zu bekommen. Die Situation war nicht einfach und gefiel ihr immer weniger. Was sich in der Theorie gut und nachvollziehbar anhörte, klang ganz anders und fühlte sich ganz anders an, wenn man mit seinen eigenen Emotionen involviert war. Anouschka würde, so stark sie sich auch gab, noch eine gewisse Zeit brauchen, um zu ihrem alten Ich zurückzufinden. Seit sie sie aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, hatte Nele sie genau beobachtet und die kleinen Hinweise erkannt. Das bewusste Zurschaustellen von Stärke, gleichzeitig aber auch das Zögern im Schritt, sobald die Situation ungewohnt wurde. Im Parkhaus war jemand mit quietschenden Reifen angefahren, und Anou hatte sich sofort erschrocken umgedreht. Kleinigkeiten nur, aber doch vorhanden. Zudem hatte Nele sich entschieden, ihr heute Abend, am besten bei einem entspannenden Glas Rotwein, alles zu berichten, was sie bisher über Karel Murow herausgefunden hatten. Das war starker Tobak.
    Der Toast sprang aus dem Automaten, und jetzt erschrak Nele selbst. Zu tief war sie in Gedanken bei diesem Monster gewesen. Sie belegte die Scheiben mit Schinken und Ananas, fügte den Schmelzkäse hinzu und schob alles in den Backofen. Dann entkorkte sie den Rotwein, goss zwei große Schwenker halbvoll und trug sie ins Wohnzimmer.

    Während sie auf Anou wartete, ging sie ans Fenster und sah auf die Straße hinunter.
    Die Straßenlaternen waren bereits an. Ihr oranges Licht fiel auf schmutzige, nasse Straßen. Auf den geparkten Wagen lag noch der schwere Schnee vom letzten kräftigen Schauer. In dicken Placken rutschte er von den Scheiben und Motorhauben zu Boden. Sie konnte genau erkennen, welche Wagen schon länger standen und welche gerade erst eingeparkt hatten. Und natürlich waren die beiden Wagen, in denen die Teams des SEK saßen, gut zu erkennen, da sie beheizt waren und kein Schnee sich darauf hielt. Ein weiteres Team befand sich auf der Etage über ihnen in einer Wohnung, die gerade nicht vermietet war und renoviert werden sollte.
    Nele war sich sicher, dass die Maßnahmen ausreichten, um Murow im Fall des Falles rechtzeitig ergreifen zu können. Sie reichten aber bei weitem nicht aus, Anouschka – und ihr selbst auch – ein sicheres Gefühl zu vermitteln. Murow war verschwunden wie ein Geist, vielleicht würde er auch wieder auftauchen wie ein Geist.
    Als die Badezimmertür ging, wandte Nele sich vom Fenster ab.
    Anouschka kam ihr mit feuchtem Haar, aber vollständig angezogen in Jeans und Sweater entgegen. Sie setzte sich auf die Couch und schlug die nackten Füße unter. Nele holte den Toast aus dem Backofen und legte ihn zum Abkühlen auf einen Holzteller. Dann setzte sie sich neben Anou und sah sie an. Die Zeit für die Wahrheit war gekommen, doch ihr fehlten die richtigen Worte.
    »Du weißt nicht, wo du anfangen sollst, nicht wahr?«, sagte Anouschka unvermittelt und überraschte Nele damit. Sie lächelte. »Ertappt.«

    Anou legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel und blickte sie an.
    »Ich kann es vertragen, wirklich. Ich hab das da unten durchgestanden … und mein Kopf hat nichts zurückbehalten … hoffe ich zumindest.«
    Sie betastete die Stelle hoch oben an ihrer Schläfe, die mit sechs Stichen genäht worden war. Auf der Flucht, als Anou sich plötzlich festgehalten hatte und Murow entglitten war, hatte er ihr dort einen heftigen Schlag versetzt. Daher rührte auch die Gehirnerschütterung, die noch nicht vollends abgeklungen war. Aber eigentlich meinte sie gar nicht diese Verletzung, das war Nele klar. Sie war äußerlich und würde rasch verheilen. Was aber war mit den inneren Verletzungen, jenen, die kein Arzt sehen und heilen konnte?
    Nele strich ihr über den Unterarm. »Und du bist wirklich in Ordnung? Wir können das alles hier auch abblasen … Weißt du, niemand erwartet das von dir, und keiner würde dich für einen Feigling halten wenn du -«
    » Ich würde es«, unterbrach Anou sie. »Verstehst du … Ich würde nicht mehr in den Spiegel schauen können. Da unten, in seinem Versteck, als ich Tim sah … ihn da liegen sah … da habe ich geschworen, den Kerl zu erledigen. Es ist mir dort nicht gelungen, und selbst wenn ich jetzt nicht mehr an ihn herankomme, will ich trotzdem beteiligt sein, wenn wir ihn fassen. Wenigstens das bin ich Tim schuldig. Wenigstens das.«
    Nele nickte. Sie hatten bereits im Krankenhaus über Tim gesprochen. Nele wusste von dem Annäherungsversuch, und damit erklärte sich auch sein

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