Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
Vom Netzwerk:
Alleingang, den er viel zu teuer bezahlt hatte. Für Anouschka war das sehr schlimm. Sie hatte Tim über ihre sexuelle Ausrichtung im
Ungewissen gelassen und fühlte sich dadurch indirekt für seinen Tod verantwortlich. Da nützten auch Neles Beteuerungen, dass sie keine Schuld daran trug, nichts. Tim war in sie verknallt gewesen, hatte sie retten wollen und war dabei auf brutale Weise getötet worden. Je länger Nele darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass Anouschka daran am meisten litt.
    Sie nippten von dem Rotwein, der lieblich und vollmundig war. Genau das Richtige, um einer geschundenen Seele Trost zu spenden.
     
    Und wieder war er zu einem Teil der Dunkelheit geworden, wieder lebte er in ihr, mit ihr, hatte sie in sich aufgenommen, so wie sie ihn aufgenommen hatte. Die Dunkelheit war alles, was ihm geblieben war. In ihren Armen war er sicher. Die Menschen trauten der Dunkelheit nicht, mieden sie, warfen nur einen flüchtigen Blick hinein und sahen deshalb nicht, was sich darin befand. Nicht einmal diese Polizisten, die überall herumlungerten und glaubten, er würde sie nicht entdecken.
    Sie irrten sich gewaltig.
    Und sie irrten auch, wenn sie glaubten, ihn davon abhalten zu können, sie zu töten.
    Sie war genauso schlecht, wie es seine Mutter gewesen war, hatte ihn betrogen und hintergangen. Aber sie hatte ihn auch etwas gelehrt: Er gehörte nicht dazu, weder zu den Frauen noch zu den Männern, er war nicht schön, war anders, abartig, ein Nichtmensch. Niemals würde sich daran etwas ändern, das hatte er durch sie erkannt.
    Die Zeit dort unten in seinem Versteck war die schönste seines Lebens gewesen. Dort hatte er endlich tun können, wofür er geschaffen war. Leider war sie zu kurz gewesen,
viel zu kurz. Und jetzt, nachdem er einmal von dieser unbändigen Freiheit gekostet hatte, fiel es ihm sehr schwer, sich unter Kontrolle zu halten. Der Gedanke daran, dieses perfekte Versteck für immer verloren zu haben, quälte ihn, und er hatte bis jetzt nicht verstanden, wie sie ihm auf die Schliche gekommen waren. Aber was spielte das schon für eine Rolle! Er würde ein anderes Versteck finden und beim nächsten Mal besser aufpassen.
    Doch das musste noch eine Weile warten. Hier gab es etwas zu erledigen, er konnte die Stadt nicht verlassen, bevor er es nicht hinter sich gebracht hatte.
    Wie lange würde es dauern, bis die Posten vor der Wohnung abziehen würden? Tage, vielleicht Wochen? Er wusste es nicht. Was er aber wusste war, dass er nicht ewig hier im Dunkeln stehen und lauern konnte. Sonst würde er bersten.
    Aber er hatte ja noch eine andere Aufgabe zu erledigen. Sie war ebenso wichtig, und es sprach nichts dagegen, sie vorzuziehen.
     
    Nele kam von der Toilette zurück. Bevor sie sich wieder zu Anou auf die Couch setzte, trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge zu. Zwar befanden sie sich im dritten Stock, niemand konnte hereinschauen, trotzdem hatte sie das Gefühl, die Welt dort draußen ausschließen zu müssen. Sie warf einen langen Blick über die Straße und den Spielplatz mit der kahlen Baumgruppe auf der anderen Seite. Irgendwo dort draußen lauerte er, wartete auf seine Chance. Eine Gänsehaut lief ihren Rücken hinab. Energisch schloss sie die Vorhänge und huschte dann schnell zu Anou unter die Wolldecke.
    Sie trank von dem Wein, bevor sie begann. Die ersten Worte waren schwer und holperig.

    »Karel Murow … eigentlich ist er eine tragische Gestalt. Du hast ja von ihm selbst gehört, wie seine Kindheit verlaufen ist. Was wir nicht wissen, können wir uns dazudenken. Den Spott seiner Mitschüler, die Einsamkeit, die Probleme mit dem Aufbau sozialer Kontakte und so weiter.
    Nach dem Tod seines Vaters – und wir wissen jetzt ja, dass er dafür verantwortlich war – kam er in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Es liegt fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt direkt am Waldrand. Und nach dem, was wir von dem Leiter der Anstalt erfahren haben, hat sich Karel Murow schon damals mehr im Wald als in der Anstalt aufgehalten.
    Pflegeeltern gibt es für so jemanden natürlich nicht, er war mit sechzehn ja auch schon recht alt. Sie vermittelten ihm dort eine Ausbildung zum Masseur – auf seinen eigenen Wunsch hin übrigens. Die Lehre hat er mit einem ordentlichen Abschluss beendet, da war er neunzehn. Er soll bei der weiblichen Kundschaft sehr beliebt gewesen sein. Nach dem Ende seiner Ausbildung verliert sich seine Spur. Er war die ganze Zeit über hier in Lüneburg gemeldet,

Weitere Kostenlose Bücher