Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
hat aber scheinbar weder gearbeitet noch irgendwelche Sozialleistungen bekommen. Uns fehlen fünf Jahre. Wir wissen einfach nicht, was er in der Zeit getan hat oder wo genau er gewesen ist.
Für uns taucht er erst wieder auf der Bildfläche auf, als er die Stelle als Zugbegleiter bekommt. Dort hat er fast vier Jahre unauffällig gearbeitet. Bis vor zwei Monaten. Es gab Beschwerden. Er soll Frauen beschimpft haben. Die Bahn entließ ihn fristlos – vor genau vier Wochen. Warum er gerade zu dem Zeitpunkt auffällig wurde, werden wir wohl nie erfahren – es sei denn, er sagt es uns. Genauso wenig werden wir erfahren, ob er mit dem Unfall der vier jungen
Leute aus Mariensee etwas zu tun hatte. Mittlerweile bin ich aber fast überzeugt davon.«
Anouschka hob die Augenbrauen. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie eine widerspenstige Locke nach hinten. »Gibt es denn Hinweise darauf?«
»Nicht wirklich, nein. Aber wir haben herausgefunden, dass unsere Fälle hier beileibe nicht die einzigen dieser Art sind. Wir haben uns auf die letzten vier Jahre konzentriert. Murow war als Zugbegleiter im gesamten Bundesgebiet unterwegs, also lässt es sich räumlich nicht eingrenzen. Vier Frauen, alle nachts an einsamen Bahnübergängen verschwunden, werden bis heute vermisst, und nachdem, was wir in den Katakomben von Eibia gefunden haben, besteht wohl keine Hoffnung mehr, dass sie einfach nur abgehauen sind.
Jasmin Dreyer, Natascha Trekov, Frauke Wendtland … sie sind tot. Jasmin Dreyer starb durch einen einzigen Messerstich ins Herz. Sie hat er nicht gequält. Bei Natascha Trekov sieht das schon anders aus. Ich erspare dir Einzelheiten, aber es sieht ganz so aus, als sei er bei ihr völlig außer Kontrolle gewesen. Ebenso bei Frauke Wendtland, wenngleich ihre Verletzungen entsetzlich systematisch waren.
Dieser Mann ist in allen Belangen unberechenbar. Er ist nicht der typische Serientäter, der genau in ein von Psychologen entworfenes Schema passt … er passt nirgendwo hinein. Und wenn er nicht den Fehler gemacht hätte, dich zu entführen, hätten wir ihn wahrscheinlich nicht so schnell gefunden.«
»Dann sollten wir ihm noch dankbar sein, was?«, warf Anou dazwischen. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
»Warum jetzt die Raserei, wo er sich doch all die Jahre vorher unter Kontrolle gehabt hat … das verstehe ich nicht.
Gehen wir mal davon aus, dass er die vier vermissten Frauen getötet hat, dann lagen zwischen diesen Fällen jeweils sechs, neun und zehn Monate. Auch hier also kein zeitliches Schema, keine Häufung – bis vor kurzem eben.
Ich habe mit unserem Psychologen gesprochen, der von einem solchen Fall auch noch nie gehört hat. Auch er ist der Meinung, dass in Murows Leben etwas Markantes passiert sein muss … irgendwas hat diese Raserei ausgelöst. Das kann natürlich der Jobverlust gewesen sein, aber daran glaube ich nicht. Schließlich hat er schon vorher angefangen, die Frauen in den Zügen anzupöbeln. Nein, es muss einen anderen Grund geben.«
Nele griff nach dem Weinglas, trank einen winzigen Schluck und drehte es in ihren Händen.
»Und weißt du was … ich werde das Gefühl nicht los, dass ich diesen Grund kennen müsste. Irgendwo habe ich im Zuge dieser hektischen Ermittlungen etwas übersehen. Ich zermartere mir seit Tagen den Kopf, komme aber einfach nicht drauf. Es ist, als habe man eine bestimmte Melodie im Kopf, kann sie aber nicht laut pfeifen. Kennst du das?«
Anouschka nickte. »Ist es denn wichtig?«
»Ich weiß nicht … vielleicht. Vielleicht ist das genau der Baustein, den wir brauchen, um ihm auf die Schliche zu kommen. Aber es fällt mir einfach nicht ein.«
Anou streckte die Hand aus und strich Nele sanft über den Unterarm. »Wir brauchen ihm nicht auf die Schliche zu kommen. Er wird mich suchen, glaub mir. Ich habe ihn so enttäuscht … er wird nicht ruhen, ehe er nicht mit mir abgerechnet hat.«
Ihre Blicke fanden sich. Nele hatte sich von Anfang an in Anous dunkle, mandelförmige Augen verliebt, und sie waren noch immer wunderschön, auch mit diesem Schatten darin.
»Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie leise.
Anou zögerte, schien darüber nachdenken zu müssen. Schließlich schüttelte sie kaum merklich den Kopf. »Gib mir noch ein bisschen Zeit.«
Mit der Dunkelheit hatte sich die Stille in die Wohnung geschlichen, und Anouschka stellte fest, dass die Stille ihr weit mehr zusetzte. Bevor Nele sich schlafen gelegt hatte, hatte sie in jedem Raum eine Lampe
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