Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Radarfalle war schon mehr gewesen, als sie hatten erwarten dürfen. Sie wollte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, mit der ständigen Angst im Nacken leben zu müssen. Sie mussten ihn einfach innerhalb dieser drei Wochen fassen.
Beide schwiegen einen Moment. Wahrscheinlich schossen Hendrik genau die gleichen Gedanken durch den Kopf.
»Wirst du ihr heute alles erzählen?«, fragte er schließlich, holte dann eilig ein neues Taschentuch aus der Packung auf dem Schreibtisch und nieste lautstark hinein.
Nele musste sich ein Lächeln verkneifen. Er tat ihr leid mit seiner seit drei Tagen anhaltenden starken Erkältung, die er sich in den feuchten, kalten Katakomben eingehandelt hatte, andererseits wirkte er damit aber auch wie ein kleiner Junge, den man gern in den Arm nehmen und tröstend über den Rücken streichen würde.
Nele wartete mit der Antwort, bis Dags Kopf wieder frei
war. »Ja, ich denke schon. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Hendrik nickte. »Ganz sicher, aber verkraftet sie es auch?«
»Ich hoffe.«
»Du kannst noch ein paar Tage warten.«
»Könnte ich, ja, aber ich bin mir nicht sicher, ob das einen Unterschied macht. Die ganze Scheiße ist ein Hammer, ob heute oder morgen. Mir dreht sich ja noch immer der Magen um, wenn ich nur daran denke. Ich werde es ihr schonend beibringen …. sofern das überhaupt möglich ist.«
Hendrik sah sie wieder an. »Und sie selbst … hat sie schon etwas erzählt?«
Nele schüttelte den Kopf. Jeder Gedanke daran tat ihr weh, und sie ahnte, dass es für sie selbst unerträglich sein würde, wenn Anou von den Geschehnissen in den Katakomben berichtete. »Nein, aber das wird sie irgendwann … und dann braucht sie jemanden, der ihr zuhört.«
Hendriks Mundwinkel zuckte.Verlegen spielte er mit dem Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch. »Sie kann froh sein, dass sie dich hat … ich könnte das nicht, glaube ich.«
Doch, wenn du verliebt wärst so wie ich, dann könntest du es auch. Du würdest es wollen, dein Herz würde danach schreien, es zu erfahren, genau wie meines, dachte Nele, sagte aber nichts.
Nele bemerkte das kurze Zögern in Anous Schritt. Ihre Freundin hielt die Schultern durchgedrückt, den Kopf aufrecht, versuchte fast krampfhaft, stark zu wirken und zögerte doch bei dem kleinen Schritt über die Schwelle in ihre Wohnung.
Hier hatte Karel Murow, das Eibia-Monster, wie ihn die
Boulevardpresse getauft hatte, sie heimgesucht. Nele versuchte sich vorzustellen, was Anou in diesem Moment durch den Kopf ging. Sie konnte es nicht. Sie war nicht entführt und von einem Perversen in einer Höhle gefangen gehalten und verletzt worden. Schilderungen waren eine Sache, es selbst zu spüren eine völlig andere.
Nele betrat hinter Anou die Wohnung und drückte die Tür leise ins Schloss. Jede Bewegung schien viel zu laute Geräusche zu verursachen. Anouschka stand inmitten des kurzen Flurs, regungslos, die Arme hängend, den Blick geradeaus. Nele, die ihre Tasche trug, trat dicht hinter sie und strich ihr über den Rücken. »Wie fühlst du dich?«
Anouschka atmete tief ein, und ohne sich umzudrehen sagte sie: »Wie in einer fremden Wohnung.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Nele hatte gestern vier Stunden damit zugebracht, die Hinterlassenschaften der Spurensicherung zu beseitigen und die Räume so angenehm herzurichten, wie es eben ging. Trotzdem schien jetzt eine durchdringende Kälte zu herrschen. Draußen war es nasskalt, aber da die Heizkörper an waren, konnte es daran kaum liegen.
»Ich mach es mal wärmer«, sagte sie und drehte die Ventile an den beiden Heizkörpern im Wohnzimmer voll auf.
»Wollen wir etwas essen?«, fragte sie danach.
»Höchstens eine Kleinigkeit … aber eigentlich will ich erst ausgiebig duschen. Den Geruch des Krankenhauses abwaschen.«
Nele nickte. »Okay, du duschst, ich mach Hawaii-Toast und öffne die Flasche Rotwein.«
Anouschka hob die Augenbrauen. »Wir dürfen Alkohol trinken? Sind wir ab jetzt nicht im Dauerdienst?«
Nele winkte ab. »Schon, aber ein Glas Rotwein wird
kaum schaden. Außerdem wimmelt es draußen von Borrmanns Leuten. Wir würden es nicht einmal mitbekommen, wenn er … wenn etwas passiert.«
»Na dann! Gegen ein Glas Wein hab ich nichts einzuwenden«, sagte Anouschka betont fröhlich und verschwand ins Bad.
Nele seufzte, ging in die kleine Küche und machte sich an die Arbeit. Im Bad begann das Wasser zu rauschen. Während ihre Hände sich mit dem Toast beschäftigten,
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