Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
sollte der es wagen, hier aufzutauchen.
Nele schenkte ihm ein Lächeln, dann ging sie den Gang hinunter. Am Schwesternzimmer verabschiedete sie sich von Judith, der jungen Schwester, die sie in den ersten Nächten mit allem versorgt hatte und nie genervt gewesen war.
Im Fahrstuhl mit geschlossenen Augen an die Kabinenwand gelehnt, überbrückte sie die fünf Stockwerke gedankenlos und war überrascht, als die Kabine schon wieder hielt. Tiefe Müdigkeit und Erschöpfung machten ihr zu schaffen. Sie hatte nicht frei nehmen können, da Murow immer noch auf freiem Fuß war, hatte weiterhin tagsüber ihr Team geführt und nachts an Anous Bett gewartet, gedöst, gebangt. Hendrik hatte ihr zwar angeboten, sie so lange abzulösen, bis Anou aus dem Gröbsten heraus war, doch das hatte Nele abgelehnt. Sie konnte jetzt keine Auszeit nehmen.
Karel Murow hatte Tim getötet, hatte die entführten Frauen bestialisch zugerichtet und war immer noch irgendwo da draußen. Sie würde keine Pause machen, bevor er nicht gefasst war, selbst wenn sie ihrer Gesundheit damit schadete. Was war das schon im Vergleich zu dem, was die Frauen da unten ausgestanden hatten – und was weitere würden ausstehen müssen, wenn sie Murow nicht fanden.
Borrmanns Leute hatten noch in der Nacht das Labyrinth von Eibia durchsucht – soweit das überhaupt möglich war. Es gab dort noch jede Menge Gänge und Räume, trotz der Sprengungen und des natürlichen Verfalls. Sie waren aber längst nicht überall gewesen, denn manche Stellen waren einfach zu gefährlich. Wenn die Untersuchungen komplett abgeschlossen waren, was noch Tage dauern konnte, würde
ein Bautrupp anrücken, alles zuschütten und zubetonieren. Egal, ob Murow noch da unten war.
Nele ahnte aber, dass er das nicht war. Das Gefühl, von ihm beobachtet zu werden, überkam sie auch jetzt wieder, als sie das Krankenhaus verließ. Es war bereits dunkel, und auch wenn das Parkhaus gut ausgeleuchtet und videoüberwacht war, blieb es dennoch ein Parkhaus – mit all den finstren Ecken und all den Betonsäulen und Wagen, hinter oder unter denen sich jemand verstecken konnte. Neles Augen huschten von einer Seite zur anderen, während sie auf ihren Wagen zuging, der nicht weit von den Aufzügen entfernt geparkt war.
Dieses Ungeheuer lebte, leckte seine Wunden, irgendwo in einem sicheren Versteck, vielleicht auch dieses wieder tief im Wald und unter der Erde. Karel Murow lebte, und Nele wurde das sichere Gefühl nicht los, dass er Witterung aufgenommen hatte, dass er sich bereits an ihre Fersen geheftet hatte, um Anouschka zu finden und das zu Ende zu bringen, woran sie ihn gehindert hatte. Er war verrückt, krank, geistesgestört, jetzt wohl noch mehr als je zuvor, und er würde nicht einfach aufgeben.
Er wurde natürlich bundesweit gesucht, was bisher aber zu nichts geführt hatte. Wie auch! Nele und Hendrik waren sich sicher, dass Murow nicht weit weg war. Er lauerte irgendwo wie ein Tier in einer Höhle. Das Dezernat hatte Vorkehrungen getroffen, mehr als Döpner eigentlich zu finanzieren bereit gewesen war. Nele rechnete es Dag hoch an, dass er alles durchgedrückt hatte, was sie verlangt hatte, auch gegen den Willen des Polizeipräsidenten. Jetzt warteten sie nur noch darauf, dass Murow etwas unternahm. Sie würden ihn nicht finden, wenn er nicht den ersten Schritt machte.
Nele erreichte ihren Wagen und schloss auf.
Bevor sie einstieg, verharrte sie kurz und sah sich in dem niedrigen Etagendeck des Parkhauses um. Sie war eine gute Beobachterin, konnte die beiden Beamten des SEK aber trotzdem nicht entdecken, die für ihre Sicherheit verantwortlich waren. Nele war der weibliche Lockvogel, die Verbindung zu Anouschka, das Gesicht aus dem Fernsehen und der Zeitung, das Murow hoffentlich gesehen hatte.
Sie stieg ein und fuhr los.
Das Kribbeln im Nacken blieb, selbst als sie die Scheinwerfer des Wagens bemerkte, der sich an sie heftete.
Wo bleibst du, Karel?
Komm und hol mich!
Dag Hendrik saß auf dem Schreibtischstuhl in seinem Büro – nein, er saß nicht, er lag. Die Schuhe hatte er ausgezogen und die Füße auf den Heizkörper gelegt. Über dem Heizkörper befand sich ein großes Fenster, das den Blick freigab auf den Hinterhof eines Elektronikfachmarktes mit den auf dem Dach montierten Leuchtreklamen. Der Winter hatte sich noch einmal für ein kurzes Intermezzo zurückgemeldet, die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt, dicke, nasse Schneeflocken trieben durch das bunte
Weitere Kostenlose Bücher