Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
kam eine Vermisstenmeldung rein. Er ist mit Eckert schon vor Ort … ohne mich zu informieren. Hat sich gedacht, ich will nach dem Unfall gestern vielleicht ausschlafen.«
»Ist doch nett von ihm.«
»Man kann es auch eigenmächtig nennen. Aber das kenne ich von ihm ja schon.«
Anou kam herüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Sei nicht zu streng mit ihm, er mag mich.«
Nele, die schon seit einer halben Stunde auf und deshalb angekleidet war, holte ihre Jacke aus dem Flur.
»Fährst du jetzt sofort?«, fragte Anou.
»Ja, ich müsste schon lange da sein. Dem werde ich was erzählen.«
Sie band sich das Achselholster mit der Dienstwaffe um.
»Nimmst du mich nicht mit? Ich kann in fünf Minuten fertig sein.«
»Nein, lass dir Zeit. Tim und Eckert sind ja schon drau ßen. Außerdem ist es wohl besser, wenn wir nicht zusammen fahren. Wir treffen uns nachher im Büro, ja. Und …«, sie deutete auf das Schlüsselbrett, »nimm dir ruhig einen Schlüssel mit.«
Über die eigentlichen Gründe für ihr Verhalten begann Nele Karminter nachzudenken, nachdem sie ihren Wagen aus der Tiefgarage gelenkt und sich in den frühen Berufsverkehr eingereiht hatte. Fahren war Routine, die Gedanken bekamen Raum für Emotionen. Das war eben nicht die feine Art gewesen, besonders nicht nach der vergangenen Nacht, aber sie war sauer über Tim Sieberts Verhalten und...
Nein! Stopp! Bleib ehrlich . So sauer war sie eigentlich nicht. Tim hatte eigenmächtig gehandelt, okay, aber unrecht hatte er damit nicht gehabt. Nele bezweifelte, dass sie um vier Uhr in der Nacht schon wieder fit genug gewesen wäre, einen Einsatz zu leiten. Sie war es streng genommen auch jetzt noch nicht und hätte ohne einen akuten Fall wohl einen Tag blaugemacht. Nein, sie hatte Anou stehen lassen, weil sie nicht mit ihr zusammen am Tatort auftauchen wollte, das war die Wahrheit. Weil sie Angst davor hatte, die Kollegen könnten in ihrem Gesicht ablesen, was zwischen ihnen beiden geschehen war.
Ein wunderbarer, tabuloser Abend, der den entsetzlichen Bildern des Todes Paroli geboten hatte, angefüllt von Vitalität,
Leben und sexueller Energie. Nele hatte seit mehr als einem Jahr keine Freundin mehr gehabt und deshalb die Zeit des vorsichtigen Herantastens, in der jeder Blick, jede Berührung Kribbeln im Bauch hervorrief, genossen. Kaum mehr als zwei Monate lag es zurück, dass Anou frisch von der Akademie in ihre Abteilung versetzt worden war, und obwohl von Anfang an diese erotische Spannung zwischen ihnen existierte, hatte Nele es nicht zugelassen, hatte die Entscheidung hinausgezögert. Bis gestern. Und gerade darum war es so gut, so besonders gewesen. Anou war im Job oft burschikos, in der Nacht jedoch feminin zärtlich gewesen, und schien zumindest auf dieser Ebene keine Hemmungen zu kennen. Sie hatte es auf eine sehr erotische Art geschafft, die Bilder vom Unfall zu verscheuchen.
Trotzdem war am frühen Morgen, als sie allein aufgestanden und durch die Wohnung getigert war, ein Wermutstropfen geblieben. Dass sie zusammen arbeiteten, dass Anouschka in der Hierarchie ihre Untergebene war, barg eine nicht zu unterschätzende Brisanz. Wenn sie eines nicht brauchte, dann war es das blöde Gequatsche der Männer im Dezernat. Nele glaubte nicht, dass jemand von ihrer sexuellen Ausrichtung wusste, und das sollte auch so bleiben. Immerhin arbeiteten sechs männliche Kollegen unter ihrer Leitung, einige davon Machos wie sie im Buche standen. So liberal die Gesellschaft in Bezug auf homosexuelle Beziehungen auch geworden war, in ihrem eigenen Mikrokosmos, in dem sie jeden Tag eng mit den Männern arbeiten musste, sah das noch anders aus. Hier ging es auch und vor allem um Autorität, die nicht untergraben werden durfte. Das war der eigentliche Grund, warum sie Anouschka nicht mitgenommen hatte, und Nele kam sich nach diesem Eingeständnis vor wie ein Feigling. Während der Fahrt hinaus
aufs Land quälte sie dieser Gedanke, und sie nahm sich vor, es am Abend wiedergutzumachen.
Das Navigationssystem ihres Wagens leitete Nele aus der Stadt hinaus über die wenig befahrene B71 bis nach Friedburg, einer Samtgemeinde mit neuntausend Einwohnern, verteilt auf mehrere kleine Dörfer, die verstreut in der ländlichen Idylle am Rande der Heide lagen. Von dort aus hatte sie den Weg zum Tatort von Tim Siebert erklärt bekommen. Nach drei Kilometern auf dem ausgeschilderten Weg nach Mariensee gab es einen beschrankten Bahnübergang, den sie angeblich nicht
Weitere Kostenlose Bücher