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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Gedanken durfte sie sich jetzt nicht ablenken lassen.
    »Was ist mit den Eltern des Mädchens?«
    »Es gibt nur den Vater. Die Mutter ist vor sieben Jahren an Krebs gestorben. Eckert hat schon mit ihm gesprochen und ist jetzt in der Nachbarschaft unterwegs.«
    Nele deutete mit dem Kinn auf die uniformierten Männer. »Kommen die Kollegen allein zurecht?«
    Siebert nickte. »Ich denke schon.«
    »Gut, dann komm mit. Ich will mit dem Vater sprechen.«
    Sie nahmen ihren Dienstwagen.
    »Bist du sauer?«, fragte Tim, nachdem sie den Bahnübergang und damit die Kollegen hinter sich gelassen hatten und endlich offen miteinander reden konnten.
    Nele vermied es, ihn anzusehen.
    »Nach deinem Anruf war ich es, ja. Ich finde es ja nett von dir, dass du mich schonen wolltest, aber in Zukunft überlässt du solche Entscheidungen bitte mir. Verstanden?«
    »Alles klar, kommt nicht wieder vor.« Und nach einer Pause. »Ich hab übrigens mit dem Krankenhaus telefoniert … das Mädchen, das du aus dem Wagen gezogen hast, kommt durch.«
    Jetzt sah Nele ihn doch an. Er schaffte es immer wieder, sie zu überraschen. Sie hatte heute früh nach dem Aufstehen auch dort anrufen wollen, hatte den Hörer schon in der Hand gehabt, sich aber nicht getraut. Die Nachricht vom Tod des Mädchens wäre zu viel gewesen. Dass Tim Siebert sich erkundigt hatte, berührte sie irgendwie. Keiner der anderen männlichen Kollegen wäre auf die Idee gekommen, dass es für Nele wichtig sein könnte.
    »Danke.«

    Er schwieg einfach und tat damit genau das Richtige. Nicht alle Männer waren emotionale Krüppel.
    »Was sagt dein Gefühl?«, fragte Nele schließlich.
    »Nichts Gutes«, er zögerte kurz, »abgehauen ist die nicht. Und jetzt sind zwölf Stunden vergangen, damit sind wir über der Zeit.«
    Zwölf Stunden! Als sie sich am gestrigen Abend von Anouschka hatte verwöhnen lassen, war Jasmin Dreyer von ihrem Fahrrad gerissen und entführt worden. Zwölf Stunden! Viel zu lange her. Wahrscheinlich suchten sie nach einer Leiche.
    Der Vater kam ihnen laufend entgegen, kaum dass Nele den Wagen auf dem Hof des gepflegten Bungalows geparkt hatte. Ein hoch aufgeschossener Mann mit grauen Schläfen und vollem Haar, das jetzt allerdings ungepflegt wirkte. Er trug teure, zerknautschte Kleidung.
    »Jasmin … haben Sie Jasmin gefunden?«, rief er und fuchtelte mit den Händen.
    Nele verneinte. Augenblicklich sackten seine Schultern schwer nach unten, die Arme wurden zu nutzlosen Anhängseln. Er schaffte es gerade noch, Neles zur Begrüßung ausgestreckte Hand zu ergreifen. Sein Händedruck war kraftlos, sein Blick unstet. Bartstoppeln überwucherten sein Gesicht.
    »Können wir vielleicht hineingehen? Ich hätte noch ein paar Fragen.«
    Detlef Dreyer nickte und ging mit hängenden Schultern und schleppendem Gang voran. Nele wusste nur zu gut, wie es im Inneren dieses Mannes aussah. Noch war Hoffnung da, noch klammerte er sich an Wünsche und Gebete, obgleich sich das Feld der Verzweiflung immer weiter ausdehnte. Dazu kamen Selbstvorwürfe, das Schlimmste überhaupt.
Das Innere eines Menschen übertraf mitunter die Hölle bei weitem.
    Eine schmutzige Spur führte in dem ansonsten sehr sauberen Haus von der Eingangstür bis in die Küche. Die leeren Tassen auf der Spüle zeugten von den Beamten, die sich im Laufe der Nacht hier aufgewärmt hatten. Nele bemerkte, dass der Hausherr die Tür offen stehen ließ. In solchen Fällen ging es in den Häusern der Angehörigen in den ersten Stunden oft zu wie in einem Taubenschlag. Fremde Menschen, Polizisten, Ermittler, mitunter Seelsorger oder Psychologen kamen und gingen. Das war aber nicht unbedingt schlecht, eher im Gegenteil. Als Allerletztes brauchten Angehörige in solchen Situationen Ruhe und Zeit.
    Einige Fotos lagen durcheinander auf dem Küchentisch. Nele deutete darauf. »Darf ich?«
    »Ja … ich hab Ihren Kollegen die besten schon gegeben. Aber nehmen Sie ruhig.«
    Nele blätterte durch den Stapel. Bilder einer Jugendlichen auf der Schwelle zur Erwachsenen. Die übliche aufreizende Kleidung, nabelfrei, sehr enge Jeans, geschminkt und gestylt. Darin unterschied sich das Leben auf dem Lande nicht von dem in der Stadt. Jasmin war ausgesprochen attraktiv.
    »Ein hübsches Mädchen«, sagte sie und sah den Vater an.
    Er nickte nur, den Blick auf das oberste Foto geheftet. »Sie kommt nach ihrer Mutter.«
    »Herr Dreyer«, begann Nele und legte die Fotos beiseite. »Mein Kollege hat Ihnen zwar schon einige Fragen

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