Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
verfehlen konnte. Die schlechte Landstraße dorthin führte durch dichtes Waldgebiet. Kiefern und Fichten drängten sich bis dicht an die Straße. Noch fehlte frisches Grün im Unterholz, so dass die Szenerie zwar friedlich, aber auf eine unheimliche Art auch alt und verlassen wirkte. Nele sah den Übergang schon von weitem. Mehrere Streifenwagen standen rechts und links auf dem schmalen Grünstreifen vorm Waldrand. Sie parkte den Passat hinter dem letzten Wagen, nahm ihr Handy aus der Halterung und stieg aus.
Die Luft hier draußen war anders als in der Stadt. Feucht, würzig, irgendwie modrig und mit einem deutlichen Geschmack erfüllt, der sie an die Sägerei erinnerte, in der ihr Vater gearbeitet hatte. Irgendwo in der Nähe musste frisch geschlagenes Holz lagern. Nele schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Dann gab sie sich einen Ruck, straffte die Schultern und machte sich auf den Weg nach vorn.
Bei einem Streifenwagen, der dicht bei den Schranken parkte, standen drei uniformierte Beamte, vor ihnen auf der Motorhaube lag ausgebreitet eine Landkarte. Sie war mit Tape auf der Haube befestigt. Oberkommissar Tim Siebert
sprach mit den örtlichen Kollegen und fuhr dabei mit dem Finger über die Karte. Als er seine Chefin bemerkte, entschuldigte er sich und kam auf sie zu.
»Morgen«, sagte Nele absichtlich kurz angebunden.
Tim Siebert stockte und sah sie an.
»Okay, okay, ich hab schon verstanden, ich hab Mist gebaut. Aber nachdem ich von der Sache gestern Abend erfahren habe, dachte ich halt, du brauchst ein bisschen Ruhe. War das denn so verkehrt?«
Er zog die Augenbrauen hoch und sah sie mit einem Blick an, den er sich bei einem Hund abgeschaut haben musste. Nur Hunde konnten so reumütig dreinschauen, dass man ihnen einfach alles verzeihen musste.
»Ist schon okay«, sagte Nele und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Sie wollte jetzt nicht darüber sprechen. Dies war weder der richtige Ort noch Zeitpunkt für eine Zurechtweisung. Außerdem war das eben fast eine Entschuldigung gewesen und ihre anfängliche Wut längst verflogen.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte sie und ging neben Tim auf die Schranken zu.
Eigentlich mochte Nele den 28-jährigen Oberkommissar, der ihr Stellvertreter war. Sie selbst hatte ihn für ihre Truppe ausgewählt. Er war intelligent, zurückhaltend, aber auch sehr bestimmt, wenn es die Situation erforderte. Außerdem konnte er über den Tellerrand sehen. Siebert würde es weit bringen, da war sich Nele sicher, es sei denn, er übertrieb es mit seinem Eigensinn. Er hatte Probleme mit Autorität, hatte sich schon öfter über Entscheidungen hinweggesetzt und war seinen eigenen Weg gegangen, ohne sich mit ihr abzusprechen. Bisher hatte er dadurch am Ende immer irgendeinen Ermittlungserfolg vorweisen können, deshalb
hatte sich noch niemand beschwert. Sollte das einmal anders sein, könnte es ihn seine Karriere kosten.
Er legte eine Hand ans Kinn und strich über den perfekt gestylten Bart. Ein dünnes, modernes Ding, das ihn ein wenig wie Johnny Depp aussehen ließ.
»Jasmin Dreyer, siebzehn, wohnt in Mariensee, circa drei Kilometer in diese Richtung.« Siebert zeigte über den Bahndamm.
»War gestern Abend zwischen 22 Uhr und 22:30 Uhr mit ihrem Fahrrad unterwegs von Friedburg nach Mariensee. Das Fahrrad liegt dort vorn im Unterholz, das Handy des Mädchens ebenfalls. Keine weiteren Spuren bisher. Die Hundestaffel ist unterwegs, allerdings schon seit einer Stunde ohne Erfolg.«
»Was ist mit Reifenspuren?«, wollte Nele wissen.
Siebert schüttelte den Kopf. »Gestern Nacht hat es geregnet.«
Nele nickte. Ihr Blick fiel auf ein großes Holzkreuz vor dem Betonsockel der Halbschranke. In einer Plastikvase steckte eine rote Rose, die noch nicht alt sein konnte. Die Blätter begannen gerade erst zu welken.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Vor einem Jahr ist hier ein Wagen mit vier jungen Leuten verunglückt. Vom Zug erfasst. Hat keiner überlebt. Die kamen alle aus Mariensee.«
Nele ging näher heran, um die eingebrannte Gravur lesen zu können. Jens, Arno, Erkan und Jenny. Vier Namen, ein Todestag. Die Welt war voller Unfälle. Selbst die friedlichsten Plätze und idyllischsten Orte blieben nicht verschont. Plötzlich drängten sich die Bilder des gestrigen Abends wieder an die Oberfläche und verursachten einen leichten Schwindel. Die Augen, die gebrochenen Augen mit der
grenzenlosen Traurigkeit darin … ruckartig wandte Nele sich ab. Von solchen
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