Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
mit Anou nicht noch einen Kaffee getrunken – vielleicht wäre sie dann dort vorn gewesen, plötzlich der Chance beraubt, ihre aufkeimende Beziehung zu Anou genießen und wachsen lassen zu können. So war sie »nur« die Erste an der Unfallstelle. Nicht die Einzige, es herrschte schließlich Feierabendverkehr, aber eben die Erste, eine Polizistin zudem, die in solchen Situationen einen klaren Kopf bewahren musste...
Nele würde nie jemandem erzählen, wie es in ihrem Kopf wirklich ausgesehen hatte. Dass sie sich gar nicht von all den anderen Leuten unterschied, die in ihrer Hilflosigkeit erstarrten, denen die Angst und das Entsetzen Blei in die Glieder goss. Auch sie hatte Sekunden, die ihr wie Stunden vorgekommen waren, einfach nur in ihrem Wagen gesessen, ehe die antrainierten Reflexe die Starre verdrängt und ihr Handeln bestimmt hatten.
Warnblinklicht an, Notruf absetzen, aussteigen, Feuerlöscher mitnehmen, zur Unfallstelle laufen, die Situation analysieren, wer brauchte als Erstes Hilfe …
… und den Kopf verlieren angesichts des Anblicks.
Der völlig zerstörte PKW steckte mit der Beifahrerseite voran bis zur Hälfte unter dem Auflieger. Ein dampfendes Knäuel Blech, ein Ausschnitt der Hölle auf Erden.
Und die Insassen … großer Gott, diese armen Menschen!
Mit einem heftigen Ruck öffnete Nele die Augen und wusste im selben Moment, dass ihr die nächsten Nächte nicht viel Schlaf bieten konnten, wenn sie nicht immer und immer wieder diese gebrochenen Augen in dem gespaltenen Schädel sehen wollte.
Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. Sie vermischte sich mit ihrem Schweiß. Das Bad hatte sich in eine Sauna verwandelt, voller Nebel, der alles verblassen ließ, was nicht hierhergehörte. Dann kamen mehr Tränen, und sie suchten sich schmerzhaft ihren Weg nach draußen. Nach ein paar Minuten war es vorbei. Ein paar Minuten Schmerz und Tränen für zwei Menschen, die sie nicht gekannt hatte und die in ihrem Leben keine Rolle gespielt hatten.
Plötzlich hielt Nele Karminter es in dem heißen Wasser nicht mehr aus. Sie zog den Stöpsel und stand auf. Viel Alkohol war es nicht gewesen, trotzdem spürte sie die Wirkung auf ihren Gleichgewichtssinn, als sie über den niedrigen Rand der Wanne stieg. Sie musste sich bücken und abstützen, belastete dabei ihren verletzten Arm und spürte einen scharfen Schmerz. Die bereits verheilende Wunde, weich geworden vom warmen Wasserdunst, riss auf. Sofort quoll Blut hervor. Nele schnappte sich ein Handtuch und presste es auf die Wunde. In diesem unpassendsten aller Momente klingelte es an der Wohnungstür.
Sie erwartete niemanden. Es sei denn …
Nele wickelte das eine Handtuch um die Wunde, band sich ein größeres um den Körper und lief tropfend über den Flur zur Wohnungstür. Durch den Spion sah sie ihre Annahme bestätigt und öffnete.
Ohne Worte nahm Anouschka Rossberg sie in die Arme, hielt sie eine ganze Weile so fest, schob sie schließlich zurück in die Wohnung und schloss die Tür. »Theo aus der Leitstelle hat mich informiert«, sagte sie flüsternd, schob Nele ein Stück von sich weg und sah sie prüfend an. »Bist du in Ordnung?«
»Ein paar blaue Flecke und Schnittwunden, nichts Ernstes.«
Ihr Blick fiel auf den Unterarm. Das weiße Handtuch wies bereits rote Flecken auf.
»Komm mit«, sagte Anou, nahm Neles Hand und zog sie zurück ins Bad. »Setz dich hin«, befahl sie.
Nele setzte sich auf den noch warmen Rand der Badewanne und beobachtete Anouschka dabei, wie sie aus dem kleinen Schränkchen hinter der Tür Verbandszeug holte, sich vor sie hinkniete und sich vorsichtig, fast schon zärtlich um die Wunde kümmerte.
Als sie fertig war, hielt sie ihre Hände. Von unten herauf blickte Anou sie aus ihren großen braunen Augen an.
»Geht’s?«
Nele nickte, fühlte sich aber längst nicht so tapfer, wie sie tat. Die Tränen saßen dicht hinter den Augen.
»Ich trockne mir die Haare und zieh mir was an.«
»Hast du Hunger?«
Nele nickte.
»Okay, ich mach in der Zwischenzeit was.«
»Ist aber nicht mehr viel da … ich wollte vorhin einkaufen.«
»Irgendwas Kleines werde ich schon zaubern können.«
Bevor Anou das Bad verließ, hielt Nele sie kurz fest. »Danke … dass du gekommen bist.«
Anou schenkte ihr ein Lächeln. »Ist doch klar.«
Wenig später saßen sie unter Wolldecken auf der Couch und aßen die Sandwiches, die Anou aus Neles Resten gezaubert hatte. Auf dem Tisch stand eine gerade entkorkte Flasche lieblicher
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