Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
und in der Mitte tief aufgeschlitzt. Aus der grässlichen Wunde quoll immer mehr Blut; dickflüssig und zäh ergoss es sich über Brustkorb und Schultern und flutete den Boden. Irina schien in ihrem eigenen Blut zu schwimmen.
Natascha stieß einen schrillen Schrei aus, wandte sich auf dem Absatz um und rannte auf den Ausgang zu. Sie stieß gegen einen Hocker, auf dem eine billige große Tonvase stand. Mit Getöse ging die Vase zu Boden und zu Bruch. Natascha bemerkte es nicht; ihr Verstand war ausgeschaltet von nackter Panik und Angst um ihr Leben. Der Satan war hier, wollte sie holen und sie für ihre mannigfachen Sünden bestrafen, genauso wie ihre Großmutter es ihr immer prophezeit hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.
Die junge Frau hastete auf die Eingangstür zu. Sie musste nur raus hier und den Wagen erreichen. Fred würde sie beschützen! Fred wusste immer, was zu tun war!
Die schwere Holztür war nur angelehnt. Natascha stieß sie auf, stolperte hinaus in die empfindlich kühle Nachtluft, schrie noch einmal laut und torkelte mit letzter Kraft auf den direkt vor der Tür geparkten schwarzen Geländewagen zu. Sie konnte Fred hinter dem Steuer sitzen sehen.
Warum half er ihr nicht?
Der Wagen stand mit der Fahrertür zu ihr. Natascha riss die Tür auf.
»Irina …«. Weiter kam sie nicht.
Fred kippte ihr entgegen. Instinktiv versuchte sie ihn aufzufangen, konnte den schweren Mann aber nicht halten und kippte mit ihm zu Boden. Er kam auf ihr zu liegen, presste ihr die Luft aus den Lungen und nagelte sie praktisch am Boden fest. Sein Kopf kippte direkt neben den ihren. Deutlich konnte Natascha den hölzernen Griff eines großen Schraubenziehers sehen, der aus dem rechten Auge des Mannes ragte.
Noch bevor Natascha ein weiteres Mal gellend schreien konnte, wurde ihr ein Lappen auf Mund und Nase gepresst. Sie atmete tief ein, spürte den ekligen Geschmack und Geruch und verlor binnen weniger Sekunden das Bewusstsein.
Gnädige Schwärze spendete ihr Frieden.
Für den Moment.
Mitternacht war nicht mehr weit entfernt, als Nele Karminter ihren Dienstwagen in die Tiefgarage des Wohnblocks fuhr, in dem sie seit vier Jahren eine Eigentumswohnung im dritten Stock besaß. Das vor zehn Jahren in kühl pragmatischem Billigstil erbaute Haus bot äußerlich keinerlei Reize, hatte aber trotzdem seine Vorteile, die sich dem Bewohner erst nach und nach erschlossen. Es lag am Ende einer Sackgasse in einem ruhigen Wohnviertel im Westen Lüneburgs,
und die Sicht aus dem Wohnzimmerfenster auf die vor den Toren der Stadt beginnende Heide war bei passendem Wetter fantastisch. Die Nachbarn waren größtenteils alt und ruhig und heizten ihre Wohnungen das ganze Jahr über derart auf, dass Nele so gut wie gar keine Heizkosten entstanden. Sie war ja kaum da, und wenn doch, dann war ihre Wohnung durch die angrenzenden bereits aufgewärmt. Einzig der pedantische Plan, nach dem das Treppenhaus gereinigt werden musste, nervte.
Das Tor zur Tiefgarage öffnete und schloss sich mittels einer Codekarte automatisch, drinnen sprang ebenso automatisch die Beleuchtungsanlage an. Kaltes Licht, das den betonierten Oberflächen einen harten Glanz verlieh. Nele raffte ihre Sachen zusammen und stieg aus dem Wagen. In der Tiefgarage war es still wie in einer Höhle, das Piepsen der Fahrzeugverriegelung klang laut und außerirdisch und hallte gespenstisch zwischen den Wänden wider. Der Abgasgeruch ihres Autos lag noch in der Luft.
Erschöpft schlich Nele auf die feuerfeste Tür zu, die zu den Fahrstühlen führte. Sie waren mit den Ermittlungen heute nicht wirklich vorangekommen. Niemand in Mariensee ging davon aus, Jasmin Dreyer könnte davongelaufen sein, und die Vernehmung ihres Freundes Sven Schweers in dessen Elternhaus hatte ergeben, dass er nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hatte. Seine Eltern hatten ausgesagt, er habe das Haus nicht verlassen, nachdem Jasmin gegangen sei. Das waren einfache, ehrliche Leute, und Nele hatten keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Die Suche der Hundestaffel war ebenfalls erfolglos geblieben. Allerdings war das Waldstück weitläufig und unwegsam, und sie hatten nicht einmal ein Drittel davon abgesucht. Nele hatte deshalb für den nächsten Tag eine zusätzliche Hundertschaft
angefordert und auch genehmigt bekommen. Sie würden am frühen Morgen, sobald es Tageslicht gab, mit der Suche im erweiterten Umfeld beginnen. Das war die einzige gute Seite an den vielen Entführungen,
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