Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
heute, oder?«, fragte sie.
Irina zuckte mit den Schultern. »Wird wohl keiner mehr kommen.«
Sie grinsten sich an wegen des Wortspiels.
»Gut, dann geh ich nach oben, zieh mich um und mach alles aus. In einer Viertelstunde kommt Fred.«
»Okay«, sagte Irina, in Gedanken längst wieder bei ihrem Rätsel. Die junge Russin trug schon Straßenkleidung, da der letzte Kunde für Natascha gewesen war und sie selbst Zeit genug gehabt hatte, zu duschen und sich umzuziehen.
Natascha ging durch den schmalen Flur und stieg die Stufen ins Obergeschoss hinauf. Das Treppenhaus und der Flur waren schummrig, nur in großen Abständen versuchten kleine Lampen mit roten Glühbirnen die Dunkelheit zu durchdringen. Typisches Pufflicht eben. Natascha hasste es. Es war nicht nur ein billiges Klischee, sondern wirkte zudem noch unheimlich. Sie gruselte sich allein im Obergeschoss, mochte es Irina gegenüber aber nicht zugeben. Außerdem, wer interessierte sich schon für die Ängste einer Nutte!
Oben ging sie den Gang nach rechts hinunter. Ihr Zimmer war ganz am Ende. Es gab hier oben nur vier Zimmer, zwei davon mit Bad, die anderen beiden ausgestattet für etwas ausgefallenere Wünsche. In Nataschas Zimmer brannte noch Licht – ebenfalls rot natürlich. Die Decke war verspiegelt, die Wände mit rotem Teppich beklebt. Ein Blutzimmer.
Natascha ging ins Bad. Geduscht hatte sie bereits, nachdem der Fettsack vor einer halben Stunde gegangen war. Ein Stammkunde, eigentlich auch ganz nett, zumindest behandelte er sie gut, aber manchmal vergaß er sich auch. Heute war er wirklich ein bisschen zu grob gewesen. Aber
er kam zweimal die Woche, ließ viel Geld hier, Natascha konnte ihn nicht einfach anmachen wie viele andere.
Sie zog Jeans, T-Shirt und einen kuscheligen Sweater an. Dann ging sie in den größeren Raum zurück, löschte das Licht und trat ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Dabei blieb sie kurz stehen und warf einen Blick hinaus. Es war stockdunkel hinter dem Gebäude. Sie konnte den Sternenhimmel sehen, der heute Nacht wirklich prächtig war. Bestimmt war es kalt draußen. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und griff nach den schweren, samtenen Vorhängen, als sie draußen am Waldrand, auf der anderen Seite der Bahngleise eine Bewegung wahrnahm.
Natascha verharrte. Vielleicht ein Reh? Hier draußen kamen sie manchmal sehr nah ans Haus. Das rote Licht, das aus den Fenstern fiel, schien sie nicht abzuschrecken, sondern sogar anzulocken. Natascha mochte es, diese zarten, scheuen Tiere zu beobachten, deren natürliche Eleganz und Anmut durchaus mit der einer schönen Frau zu vergleichen waren.
Da sich aber draußen nun nichts mehr tat, zog sie die Vorhänge mit einem energischen Ruck zu. Fred wollte nicht, dass sie offen blieben. Und es interessierte ihn einen Scheiß, wenn deswegen die Grünpflanzen eingingen. Der Club wurde um drei Uhr am Nachmittag geöffnet, bis dahin blieben die Vorhänge zu. Wie sollten die Pflanzen da genug Licht bekommen?
Natascha ging in den Flur und schloss die Tür zu ihrem Zimmer. Plötzlich bemerkte sie, wie still es im Haus war. Unten liefen weder der Videorecorder mit den Schundfilmen noch die Stereoanlage, und Irina pfiff auch nicht vor sich hin, wie sie es oft tat, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Natascha hielt die Luft an. Das Haus schien
in einem Vakuum gefangen oder durch einen bösen alten Zauber in eine andere Welt versetzt. Sie glaubte an solche Sachen, seit sie ein Kind war. Damals, in der Heimat, als die Welt noch voller Abenteuer gewesen war, hatten alle daran geglaubt.
Abermals fröstelte sie.
Die Arme um den Oberkörper geschlungen, schlich sie bis zum Treppenaufgang. Ihre Schritte waren auf dem dicken Teppich nicht zu hören. Am oberen Ende der Treppe blieb sie stehen und lauschte.
Stille!
Das gedämpfte rote Licht ließ die Treppe wie den direkten Abstieg in die Hölle wirken.
Plötzlich schob sich unten ein Schatten vor. Unnatürlich groß. Nicht von dieser Welt. Natascha erstarrte mit einer Hand vor dem Mund. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es ihr, einen Schrei zu unterdrücken.
»Nati!«, schall es vom Treppenaufgang herauf, und Natascha fuhr zusammen. »Fred ist vorgefahren. Kommst du?«
Irina, es war nur Irina!
Vor Erleichterung seufzend sackte sie in sich zusammen. Was hatte sie denn gedacht, wer das sein könnte? Der Satan! Blödes, kindisches Getue.
»Ja, sofort, ich zieh nur rasch die Vorhänge zu.«
Draußen erstarb das Geräusch eines
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