Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Motors. Fred mit seinem angeberischen Geländewagen, mit dem er sie jeden Abend abholte. Allein da reinzukommen war schon ein Kraftakt. Im Minirock nicht zu schaffen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Natascha betrat nacheinander die anderen drei Zimmer, zog die Vorhänge zu und löschte das Licht. Zwischendurch hörte sie draußen eine Autotür zuschlagen. Normalerweise
kam Fred nicht herein, es sei denn, er hatte noch Bock. Aber dann rief er eigentlich vorher an und sagte Bescheid, damit eine von ihnen ausgezogen blieb. Meistens Irina. Irgendwie stand er auf sie. Nicht dass es Natascha etwas ausmachte. Sie konnte Fred nicht besonders gut leiden, obwohl er sie noch nie geschlagen hatte. Aber es gab ja auch noch andere Methoden, um eine Frau zu demütigen.
Im letzten Zimmer huschte Natascha noch schnell ins Bad, um die Toilette zu benutzen. Sie entleerte ihre Blase, spülte – was sich in der Stille entsetzlich laut anhörte – und lief zum Treppenaufgang. Sie hatte den Fuß noch nicht auf die oberste Stufe gesetzt, da wusste sie schon, dass etwas nicht stimmte.
Ihr Bauch, ihre Nervenenden, ja ihr ganzer Körper schrie ihr zu, dass sie nicht hinuntergehen, sondern sich hier oben irgendwo verstecken sollte. Das Gefühl war so heftig, dass sie es beinahe wie einen körperlichen Schmerz empfand.
Es war der Satan!
Jetzt hatte er sie doch gefunden!
Natascha begann unkontrolliert zu zittern. Was sollte sie tun? Sie konnte nicht hinuntergehen, ihre Muskeln versagten ihr den Dienst. Aber Fred war doch da! Der große, starke Fred, dem keiner was anhaben konnte. Ihr Bewacher und Beschützer. Er wartete draußen vor dem Haus. Sie musste nur hinuntergehen, nur diese paar Stufen hinuntergehen.
Sie konnte es nicht.
Warum rief Irina nicht nach ihr? Sie war doch längst überfällig, und Fred hasste es, auf sie beide warten zu müssen, wenn keine Kundschaft mehr im Laden war.
Vielleicht hatte Irina keine Lust mehr gehabt zu warten und war schon in den Wagen gestiegen! Daher auch das Zuschlagen der Autotür. Ja, genau, das musste es sein! Irina
war manchmal so in sich selbst vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß.
Natascha streckte ein Bein aus, berührte mit der Fußspitze die oberste Stufe und verlagerte ihr Gewicht darauf. Der erste Schritt! Wenn der erste Schritt gemacht war, war die Angst besiegt.
Geh nicht! , rief die Stimme in ihrem Inneren. Jene Stimme, die sie damals auch davor gewarnt hatte, dem Jungen zu vertrauen, der ihr vom wunderbaren Leben im goldenen Westen vorgeschwärmt hatte. Sie hatte damals nicht auf die Stimme gehört und tat es auch jetzt nicht. Diese Stimmen waren nur Überreste der Ängste, die ihre Oma ihr als Kind eingepflanzt hatte. So etwas passte nicht mehr in diese Zeit.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie die Stufen hinuntertapste. Unten angekommen spähte sie um die Ecke in den großen Raum, der die Bar, die Couchecke und den großen Spiegel mit der Garderobe beherbergte. Die Barbeleuchtung brannte noch. Man konnte sie bei der Eingangstür ein- und ausschalten. Das waren stets der erste und der letzte Handgriff, wenn sie kamen und gingen. Dank der vorgezogenen Vorhänge war es ja immer dunkel im Haus. Wie es sich für einen versifften Puff wie diesen gehörte.
Verflucht!
Warum hatte Irina nicht gewartet.
Natascha löste sich von der Treppe. Bis zur letzten Sekunde hatte ihr der Handlauf so etwas wie Sicherheit vorgegaukelt. Solange sie sich mit einer Hand daran festklammerte, könnte sie immer noch nach oben laufen und sich verstecken.
Als ob das etwas bringen würde!
Natascha wollte zur Bar hinübergehen, denn dahinter
befand sich ihre Handtasche. Sie bemerkte einen eigenartigen Geruch, der nicht hierherpasste. Es roch irgendwie schwer und … metallisch. Nichts, was sie einordnen konnte. Sie umrundete die Theke und prallte zurück.
Von dem beige gefliesten Fußboden zwischen der Theke und der Wand war nichts mehr zu sehen. Er hatte sich in ein dunkelrotes Meer verwandelt, dessen Ränder noch in Bewegung waren und die jetzt über den Teppich quollen, direkt auf Nataschas Füße zu. In der Mitte dieses roten Meeres lag Irina. Flach auf dem Rücken, das rechte Bein angewinkelt, den Fuß unter der Kniekehle des Linken, einen Arm zur Seite gestreckt, den anderen angewinkelt über dem Kopf. Ihre Augen waren weit geöffnet, aufgerissen geradezu, und starrten zur Decke. Ein schlecht eingestellter Spotstrahler über der Theke strahlte auf ihren Hals, der überstreckt war
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