Tief
in Blackpool hatte die Regierung ihn als Notfallkoordinator wieder eingesetzt und ihm volle Handlungsfreiheit zugesichert.
Am Rand von Blackpool fuhren sie an einer langen Autoschlange vorbei, die sich an einer Straßensperre gebildet hatte. Roddy und Kate starrten durch die dunkel getönten Scheiben des Toyotas auf die Leute in den Autos. Anscheinend waren es die Angehörigen. Roddy sah nur vor Kummer verzerrte Gesichter. Die Ärmsten!
Ihr Auto wurde hinter sieben Krankenwagen durch die Straßensperre gewinkt. Normalen Verkehr gab es auf den Straßen nicht mehr. Sie überholten einen Konvoi von Militärfahrzeugen, die Soldaten an den Katastrophenort brachten.
»Es ist so unwirklich«, sagte Kate.
Fünf Minuten vor Mitternacht kamen sie an der Promenade an, in der Nähe des Eingangs zum Nordpier. Sie waren ausgestiegen, bevor ihnen der Fahrer die Tür öffnen konnte. Das Erste, was Roddy auffiel, war der Lärm der Hubschrauber über ihren Köpfen. Er trat ans Geländer und kam sich seltsam und fehl am Platz vor. Zwei Sanitäter eilten vorbei, mit einer Leiche auf der Trage. Roddy packte die kalten Metallstäbe fester und blickte nach unten zum Strand.
Der Strand war in hellstes Flutlicht getaucht, und die Szene wirkte wie ein wahr gewordener Albtraum; Hunderte von Soldaten standen bereit und schirmten ihn zum Land hin ab. Und hinter den Soldaten … Wale um Wale um Wale, riesige, geschmeidige Blauwale, mächtige, hässliche Pottwale, klein wirkende Delphine, alle aus ihrem Element gerissen. Sie lagen auf der Seite, auf dem Bauch, auf dem Rücken, zu ganzen Haufen. Viele waren tot und viele verletzt.
Roddys Blick wanderte von rechts nach links, und er sah, dass noch Hunderte von Metern weiter gestrandete Wale lagen. Das ist Chaos, dachte er, dies ist Anarchie der Natur, etwas ganz anderes als in Brighton. Nichts war ihm hier vertraut, es war einfach nur eine unvorstellbare Szene, die durch absurde kleine Details noch betont wurde: Ein Mann im Anzug, mit Krawatte und gelben Gummistiefeln stapfte durch den Sand; ein heller Rundkopfdelphin lag auf einem Blauwal wie ein Madenhacker auf einem Wasserbüffel.
Roddy bemühte sich um Konzentration, als jemand ihn ansprach. Schließlich begriff er, dass ein Chief Constable ihn über die Vorgänge unterrichtete. Er nickte, als der Mann erklärte, die letzten Opfer seien gegen 22.00 Uhr in Krankenhäuser, Kliniken und improvisierte Lazarette in Turnhallen und Schulen in zehn verschiedenen Bezirken gebracht worden; auch die Toten, an die man herangekommen war, lagen nicht mehr am Strand, sondern in einem behelfsmäßigen Leichenschauhaus, das in einem Fußballstadion errichtet worden war.
»Ich verstehe«, sagte Roddy. Aber er verstand gar nichts. Er sah die Toten, die noch am Strand lagen. Einzelne Körperteile ragten unter den gestrandeten Walen hervor, aber sie waren unerreichbar.
Der tonlose, grimmige Monolog des Chief Constable versiegte, weil Kate neben ihnen begonnen hatte, laut zu fluchen. Roddy hörte ihr ein paar Minuten zu, um sich abzulenken.
»Kate?«, sagte er schließlich.
»Die Bastarde«, brachte sie hervor. »Die Bastarde.«
»Wer?«
»Die Wale«, erwiderte sie wütend.
Roddy stieß einen traurigen Seufzer aus. Ich kann den Walen keinen Vorwurf machen, dachte er.
Kate drehte sich auf dem Absatz um und stieg wieder ins Auto.
Roddy starrte immer noch auf die gestrandeten Meeressäuger. Blackfin, wo bist du? Warum hast du das getan?
»Sir? Dr. Ormond? Sind Sie bereit?«
Der Militärfahrer war nervös. Es war seine Aufgabe, sie so schnell wie möglich wieder zum Flugplatz zu bringen. Sie sollten zur Luftwaffenbasis Brize Norton in Oxfordshire geflogen werden, um dort von Marineoffizieren eingewiesen zu werden.
»Lassen Sie uns fahren«, antwortete Roddy.
Er hatte darauf bestanden, sich die Szene erst einmal anzusehen, bevor er sich auf das U-Boot im Atlantik begab, das bereits mit dreißig Knoten in der Stunde auf SONAZ zufuhr. Stirnrunzelnd folgte er Kate ins Auto.
Am Strand bläst ein alter Pottwal mit einem schwarzen Fleck auf dem Buckel eine schwache Fontäne.
* * *
In dem riesigen Haus an der Bishops Avenue brannte kein Licht. Rattigan hatte sechs Stunden lang ferngesehen. Mürrisch und verächtlich saß er vor dem Fernseher, als sich der Premierminister, in schwarzem Anzug und Krawatte, völlig geschockt an die Nation wandte.
»Ich stehe vor Ihnen ohne vorbereiteten Text oder Gedanken. Ich habe nur meine Trauer …«
Der
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