Tief
Bildschirm warf ein flackerndes bläuliches Licht über Rattigans unrasiertes Gesicht. Seine Augen bewegten sich kaum, er blinzelte nicht einmal.
»Es ist Mitternacht«, fuhr der Premierminister fort, »und unsere Nation ist vor Trauer wie gelähmt …«
Aber Rattigan hörte der Rede des Premierministers nicht mehr zu. Er hatte alles verloren; seine Frau, seine Tochter, sein Geschäft, seine Stellung, seine Zukunft – alles, was sein Elend über sich selbst in Schach gehalten hatte. Er wackelte mit einem Bein, wie ein kleiner Junge, der einen aufregenden Film sieht: Gott, die werden wünschen, sie hätten mich nie gehasst … Ormond, Gunning, Theresa. Sie sind tot.
Ohne Angst vor den Konsequenzen konnte er seine verkorkste Kreativität voll ausleben. Ormond, Ormond … Nach und nach ließ das Zittern in seinem Bein nach. Wie ein Schachgroßmeister in einer schwachen Position suchte er unablässig nach der effektivsten Lösung, um seinen Gegner zu besiegen.
* * *
Kate und Roddy stritten sich, während sie über das dunkle, fassungslose England zur Luftwaffenbasis flogen.
»Du hast bloß zu viel Angst, um dich damit auseinanderzusetzen«, sagte Kate mit Nachdruck. »Sie haben absichtlich einen Strand voller unschuldiger Menschen getötet. Warum kannst du nicht akzeptieren, dass sie etwas Furchtbares getan haben?«
»Sie könnten jede Woche in den nächsten zehn Jahren genauso viele Menschen töten und kämen trotzdem noch nicht auf die Anzahl der Wale, die von Menschen getötet wurden. Wir haben ganze Walpopulationen ausgelöscht und wofür? Ich sage dir, wofür –«
»Ich will nicht wissen, wofür, ich will es gar nicht wissen.«
»– für Seife, für Öl, für falsches Elfenbein, für billiges Hundefutter, für Dünger, für Kerzenwachs, für Schmiermittel, für Aphrodisiaka, aus Geldgier! Wir wissen nicht, warum die Wale es getan haben, aber glaub mir, sie haben einen besseren Grund, als wir je gehabt haben!«
»Äh«, sagte der Kopilot, der gerade aus dem Cockpit kam, »ist alles in Ordnung?«
Roddy nickte und sank in seinen Sitz zurück. Kate schien etwas sagen zu wollen, aber er hob nur müde die Hand, und sie murmelte einen leisen Kommentar, in dem das Wort »stur« vorkam. Sie stand zunehmend unter Stress: Bald würde sie ein U-Boot betreten müssen, eine Vorstellung, die sie entsetzte.
Roddy dachte über die Eigenschaften nach, durch die die Menschen sich den Tieren überlegen fühlen: das Bewusstsein zum Beispiel. Aber was war mit Sentimentalität und Heuchelei, wütete er innerlich: Eigenschaften, die es einem Menschen erlaubten, eine Katze oder einen Hund mit Liebe zu überschütten, während sie ignorierten, was die moderne Landwirtschaft den Tieren antat. Eigenschaften, die die Menschen dazu brachte, über die Kunststücke von Delphinen in einem Schwimmbecken in Entzückensschreie auszubrechen, während ihnen die Tausende von Delphinen, die jedes Jahr in Treibnetzen verendeten, völlig egal waren. Wale waren zu Sentimentalität und Heuchelei nicht fähig … Er wandte sich wieder zu Kate.
»Diese Wale sind über Jahrhunderte hinweg verfolgt worden, es existiert nur noch ein jämmerlicher Bruchteil ihrer ursprünglichen Population – wenn das mit Menschen passiert wäre, würdest du es als Völkermord bezeichnen, und es wäre, als ob neunzig Prozent der Erdbevölkerung ausgelöscht worden wären. Verstehst du? So etwas haben sie noch kein einziges Mal getan. Aber jetzt werfen sie sich auf volle Strände, und das sagt mir, dass in ihrer Welt etwas wirklich Grauenhaftes vor sich gehen muss. Aber nein, deiner Meinung nach sind sie ja nur plötzlich zu psychotischen Mördern geworden. Was für eine Überheblichkeit!«
Kate fuhr herum und warf ihr Wasserglas nach ihm. Erschreckt holte er Luft. Ungläubig sahen sie einander an.
»Warum hast du das denn jetzt getan?«
»Weil du mich einfach wütend machst!«
Er rieb sich mit der Hand die Tropfen aus dem Gesicht und zog mit Daumen und Zeigefinger das nasse Hemd von der Haut.
»Entschuldigung«, sagte Kate.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich stehe unter Stress«, erklärte Kate. »Das alles macht mich völlig fertig. Roddy? Es tut mir leid. Roddy, was werden wir auf dem Boden des Irminger-Beckens finden?«
»Ich weiß es nicht.«
* * *
Auf dem Luftwaffenstützpunkt Brize Norton wurden sie vom Kommandanten und seinem Gefolge in Empfang genommen und schnell in die Operationszentrale der Staffel Nr. 10 geleitet. Dort warteten zwei
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