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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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der auf Roddy gelegen hatte.
    »Mein Assistent – ach du Scheiße, mein Assistent, er war hier …«
    »Ist es ein Schwarzer?«
    »Ja, er …«
    »Es tut mir leid, aber wenn wir dieselbe Person meinen, dann gehört er, glaube ich, zu den Verletzten …«
    »Um Gottes willen.«
    »Er liegt dort hinten, wenn es dieselbe Person ist.«

8
    Rattigans Chauffeur und seine neue Privatsekretärin langweilten sich. Seit fast einer Stunde parkte der Bentley nun schon vor einem unauffälligen modernen Gebäude in Southwark nahe der U-Bahn-Station. Ein diskretes kleines Schild wies darauf hin, dass das Gebäude Dewdrop House hieß.
    »Was ist das hier überhaupt?«, fragte die Sekretärin.
    »Keine Ahnung.«
    »Es sieht aus wie ein Studentenwohnheim, nur ohne Studenten.«
    »Ah ja?«, erwiderte der Chauffeur müde. Er war am Studentenleben nicht interessiert.
    »Aber warum sitzt er einfach hinten drin und tut gar nichts?«
    »Weiß nicht. Das macht er manchmal. Du gewöhnst dich besser schon mal daran.«
    Im Fond saß Rattigan und starrte aus dem Fenster auf den Eingang von Dewdrop House. Aus dem Radio drang leise Musik, aber er hörte nicht zu. Nach dem Schock der Begegnung mit Ally war er beinahe instinktiv hierhergekommen. Auf dem Rücksitz lagen zerlesene Bücher und Dokumente: Jahresbericht Dewdrop House; Fallstudien Kindesmissbrauch; Rechte des Kindes – Realität oder Rhetorik? , außerdem der Kostenvoranschlag einer Baufirma für den Bau eines neuen Flügels.
    Niemand in Dewdrop House, einem Pflegeheim für missbrauchte und verletzte Kinder, wusste, wer er war. Er war nie mit jemandem vom Personal oder den Kindern zusammengetroffen. Aber er war derjenige, der das Heim entworfen und gegründet, den Bau überwacht und die Heimleitung gebilligt hatte. Der Bau hatte fünf Millionen gekostet, und die jährlichen Unterhaltungskosten beliefen sich auf zwei Millionen Pfund. Jeder Penny kam aus seiner eigenen Tasche, über einen anonymen Trust Fund, den er vor fünfzehn Jahren gegründet hatte.
    Die Eingangstür des Hauses ging auf. Über die niedrige Mauer und den schmalen, gepflegten Rasen hinweg sah Rattigan einen etwa zehnjährigen Jungen herauskommen. Er setzte sich auf eine Bank, verschränkte die Arme und ließ den Kopf hängen. Wer mag das wohl sein, dachte Rattigan, und was mag er erlebt haben? Der arme kleine Kerl. Er ist doch noch ein Kind. Rattigan kannte die Geschichte aller Kinder in Dewdrop House, ebenso wie in den anderen drei Therapiezentren, die er errichtet hatte.
    Wut über gewisse Ungerechtigkeiten erfüllte ihn: Eine davon war, dass Kinder von Erwachsenen so leicht missbraucht werden konnten; eine andere, dass er auch einmal so ein Kind gewesen war. Das war eine widerwärtige Tatsache, die er weder analysieren noch verstehen wollte. Es war so viel einfacher, Kindern jetzt zu helfen, als das Kind zu begreifen, das er einmal gewesen war. Wenn Ally von all dem wüsste, dachte er traurig, würde sie mich vielleicht nicht als reich und nutzlos bezeichnen. Das Gleiche galt für Theresa. Andererseits: Wenn sie davon wüssten, wüssten sie alles über mich. Und das will ich nicht.
    Wie schon als Kind gab er sich immer noch die Schuld.
    Der Junge hatte sich eine Zigarette angezündet. Er blies Rauchringe in die Luft. Unwillkürlich musste Rattigan über sein trotziges Verhalten lächeln. Auf einmal drang die Stimme des Radio-Moderators in sein Bewusstsein. Der Ton der Sendung hatte sich geändert, vielleicht hatte auch jemand angekündigt, dass das Programm für eine Sondermeldung unterbrochen würde, und jetzt hörte Rattigan halb ungläubig, wie ein Reporter aufgeregt berichtete, am Strand von Brighton hätten Wale Menschen umgebracht. Und dann fügte der Reporter hinzu: »Dr. Roderick Ormond, der die Rückflutung eines gestrandeten Pottwals geleitet hatte …« Ormond? Warum wurde der plötzlich erwähnt? Der Mann, den meine Frau mehr geliebt hat als mich.
    »Fahren Sie mich nach Hause«, bellte er in die Sprechanlage.
    *  *  *
    Die Rattigans lebten in einer Multimillionärssiedlung in der Nähe von Hampstead Heath. Das neogeorgianische Gebäude war von hohen Mauern umgeben, mit elektronischen Toren, Überwachungskameras, Wachpatrouillen und Hunden gesichert. Es ähnelte einem halbautonomen Staat, der sich vom gewöhnlichen Leben abgelöst hatte.
    Theresa befand sich in ihrem Hobbyraum. Es war der einzige Raum im gesamten Haus, in dem sie sich vor dem ständigen psychischen Druck und der gelegentlichen

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