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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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nimmt ihn seine Arbeit so in Anspruch, dass er es nicht bemerkt.«
    Ally hatte keine Gelegenheit mehr, darüber nachzudenken.
    »Es tut mir leid, dass Sie warten mussten«, sagte Roddy.
    »Macht nichts.«
    »Sollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Er lächelte Ally an. »Oder müssen Sie nach Hause und sich sauber machen?«
    Whitaker sah ihnen nach, wie sie über den Kiesstrand zur Promenade stapften. Plötzlich wurde ihm melancholisch zumute, und er wünschte, er hätte sich getraut, sie nach ihrer Handynummer zu fragen. Er drehte sich um und ging langsam zum Meer hinunter.
    Unter Roddys Füßen knirschte der Kies, und auf einmal war er schrecklich schüchtern. Er wusste nicht, wie er ein Gespräch mit Ally beginnen sollte. Vielleicht ging es ihr ja genauso. Schweigend gingen sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander her.
    Das ist Theresas Tochter!, dachte Roddy staunend. Was Theresa jetzt wohl macht? Wie sie wohl aussieht? Ob ich sie nach mehr als zwanzig Jahren überhaupt noch wiedererkennen würde? O Mann, es kommt mir vor wie ein völlig anderes Leben, eine völlig andere Welt. Er stellte sich Theresa in unterschiedlichen Kontexten vor – als Lehrkraft an einer Provinzuniversität, als Autorin von Fachbüchern, als Übersetzerin, als Mutter von fünf Kindern –, und sein Herz schmerzte.
    »Da ist der Waltyp«, sagte jemand. Ally warf Roddy einen Blick zu und lächelte ihn an.
    Was soll ich jetzt zu diesem Mädchen sagen?, dachte er. Sie sind also Studentin/Oben-ohne-Model/Auszubildende bei Marks & Spencer … Wie interessant … Ach, übrigens, ich habe Ihre Mutter geliebt …
    Plötzlich war ein Helikopter über ihren Köpfen. Er flog so niedrig, dass ihnen das Geräusch in den Ohren wehtat und sie sich unwillkürlich duckten, als er über sie hinweg zum Meer flog.
    »Was ist denn jetzt los?«, fragte Ally.
    »Keine Ahnung.«
    Sie waren beinahe oben am Strand angekommen, als sie das Heulen der ersten Sirene hörten. Streifenwagen hielten mit kreischenden Bremsen auf der Promenade, und Polizisten sprangen heraus.
    DIES IST EIN NOTFALL , VERLASSEN SIE SOFORT DEN STRAND ! DIES IST EIN NOTFALL , VERLASSEN SIE SOFORT DEN STRAND !, ertönte es aus Lautsprechern.
    Roddy und Ally warfen sich ungläubige Blicke zu. Polizisten rannten an ihnen vorbei zum Meer hinunter, wobei sie allen zuschrien, sie sollten sich in Sicherheit bringen. Frauen begannen zu schreien, und als Roddy sich suchend umschaute, sah er auf dem Meer einen dunklen Bereich, in dem das Wasser schäumte. Es war wie ein Miniatursturm, der auf die Küste zuraste.
    »Whitaker!«, brüllte er.
    *  *  *
    Aber Whitaker hört Roddys Schrei nicht. Er starrt wie gebannt auf einen kochenden Wirbel von dunklen Leibern, die das Land fast schon erreicht haben.
    »Gott«, keucht er.
    Auf allen vieren versucht er, den Kiesabhang hinaufzuklettern, aber seine Füße gehorchen ihm kaum, die Kiesel rutschen und kullern unter ihm weg; er kommt nicht schnell genug weg.
    Blackfin schwimmt dicht unter der Oberfläche. Das Wasser gleitet von seinem Körper ab, fließt durch die Rillen in seiner Haut. Noch nie ist er mit solcher Freude so schnell geschwommen. Das Meer wird immer flacher, neben ihm sind die dunklen Gestalten seiner Brüder und Schwestern, die dicht gedrängt im selben Tempo wie er dahingleiten. Er schwimmt durch einen Fischschwarm, über ein vertäutes Ruderboot, er hebt sich impulsiv aus dem Wasser. Kurz sieht er den Strand, die Menschen, die aufwärts hasten, und dann wird alles leichter und heller, sein mächtiger Leib zieht einen Graben, ein anderer Wal kracht in seine Flanke, Kieselsteine bohren sich in seine Unterseite, und mit ekstatischem Schmerz schlägt er an Land auf.
    Ein dunkler, riesiger Schatten schießt an Whitaker vorbei. Der Kies knirscht ohrenbetäubend, und der Anblick brennt sich ihm für immer ins Gedächtnis, die schreckliche Wahrheit, dass ein menschliches Wesen gleich unter diesem lebenden Fleischberg begraben wird. Whitaker, der immer noch panisch den Hang hinaufkrabbelt, weiß einen kurzen Moment lang, was ihm widerfahren wird, und dann widerfährt es ihm, als der Wal auf ihn fällt.
    *  *  *
    Es hatte wahrscheinlich kaum länger als eine halbe Minute gedauert, aber Roddy und Ally, die oben vom Strand aus zugesehen hatten, kam es viel länger vor. Roddys Gedanken überschlugen sich, als er diesem Schauspiel beiwohnte, das theoretisch eigentlich unmöglich schien. Er sah fünfzig, sechzig, vielleicht achtzig Wale

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