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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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Gewalttätigkeit ihres Mannes einigermaßen sicher fühlen konnte. Tony nannte den Raum verächtlich nur »das selbstklebende Kunststoffzimmer«. In der Vergangenheit war sie verschiedenen intellektuellen Interessen nachgegangen: Botanik, Sprachen, Astronomie. Aber anscheinend hatte Tony sich durch ihre Leistungen bedroht gefühlt. Sie hatte versucht, sich für Geologie zu begeistern, damit sie ein gemeinsames Interesse hatten, aber aus irgendeinem Grund hatte er darauf gereizt reagiert. Seit vielen Jahren machte er sich in erster Linie lustig über alles, was sie tat, zumal sie sich in der letzten Zeit auch nur noch in der Lage fühlte, mit Farbe und Leim zu experimentieren.
    Was für eine Verschwendung, dachte sie gequält – was für eine schreckliche Verschwendung von Liebe und von Leben. Seinem und meinem Leben.
    Ihr neuestes Hobby war Decoupage. Konzentriert runzelte sie die Stirn, als sie blassgelben Lack auf die Kopie einer viktorianischen Strichzeichnung eines Blumenkorbs auftrug. Dann hängte sie das Blatt Papier zum Trocknen an eine Leine. Ein Dutzend anderer Blätter hingen bereits dort und warteten darauf, zugeschnitten und auf eine alte Standuhr, die sie gekauft hatte, aufgeklebt zu werden. Sie nahm eines der bereits getrockneten Blätter, das Bild eines Welpen, das bereits braun lackiert war, und begann die Augen auszumalen. Ihre Hand zitterte leicht. Vor ein paar Minuten hatte sie den Bentley in der Einfahrt gehört. Ich bin viel zu nervös, ich muss mich mehr auf den körperlichen Rhythmus konzentrieren … Sie steckte die Zunge zwischen die Zähne, und so konzentriert wie ein kleines Kind, das ein Wort schreibt, malte sie dem Welpen ein rotes Halsband.
    Die Muskeln ihres schmalen Handgelenks zogen sich zusammen und entspannten sich. Ihre Finger waren lang und schlank und sahen immer noch jung aus. Die Nägel waren nicht lackiert; sie schminkte sich nur, wenn er es ihr sagte. Aber das geschah in der letzten Zeit nur noch selten.
    Manchmal bewunderte sie sich selbst im Spiegel. Nicht schlecht, dachte sie dann zögernd, für eine Frau über vierzig. Wenn ich mir die grauen Haare auszupfe, gehe ich ohne Weiteres noch für fünfunddreißig durch. Ich habe immer noch gute Haut, einen guten Körperbau, Grübchen. Mein Gesicht ist hübsch, dachte sie, aber ich bin viel zu dünn. Ich habe seit Jahren nicht mehr richtig gegessen.
    Der Welpe war fertig, das rote Halsband und das blaue Körbchen leuchteten. Sie hängte das Bild zum Trocknen auf und stieß einen leisen Seufzer der Zufriedenheit aus. Ein schrilles Klingeln ließ sie zusammenfahren.
    Im Hobbyraum war eine Klingel installiert, damit er sie rufen konnte. Er hatte sie vor zehn Jahren einbauen lassen, kurz nachdem sie ihn hatte verlassen wollen. Ihn verlassen zu wollen war, neben der Tatsache, dass sie ihn geheiratet hatte, der zweitgrößte Fehler ihres Lebens gewesen. Einen oder zwei Tage lang war er außer sich vor Wut gewesen und hatte sie geschlagen, und dann hatte er ihr bis ins kleinste Detail erläutert, welche legalen oder illegalen Methoden er anwenden würde, damit sie Ally nie wieder zu sehen bekäme. Also war sie bei ihm geblieben, gefangen in einer Ehe, die plötzlich zehnmal schlimmer war als vorher. Und von da an waren sämtliche Charakterzüge, die sie an ihm nicht mochte, noch stärker hervorgetreten. Seine Jagd nach Reichtum wurde zwanghaft und beherrschte sein ganzes Sein, seine Geschäftsabschlüsse fanden am Rande der Legalität statt, und er behandelte sie schlecht, während sein Verhältnis zu Ally auf ungesunde Weise intensiver wurde.
    Ein paar Minuten lang saß sie still da und versuchte, sich zu beruhigen. Rasch nahm sie ein paar Tabletten aus einer Schale und schluckte sie. Dann ging sie nach unten. Er saß in dem Wohnbereich, den sie Allys Zimmer nannten, einfach weil Ally ihn dem großen, eleganter eingerichteten, formellen Wohnzimmer immer vorgezogen hatte.
    »Guck dir das an«, sagte ihr Mann. Er saß zusammengesunken in einem schwarzen Ledersessel und sah fern.
    »Was ist das?«, fragte sie so neutral wie möglich.
    »Na, offensichtlich die Nachrichten«, fuhr er sie an.
    Nervös ließ sie sich auf der Kante des Sofas nieder. Es dauerte einen Moment, bis die Stimme des Sprechers in ihr Bewusstsein drang. »… erschreckender Vorfall … drei Tote und sechsundzwanzig Verletzte … fünf Personen in kritischem Zustand … viele Spezies …«
    »Achtundsiebzig Wale!«, rief Rattigan. »Sie haben sich im Rudel auf den

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